Die 5.128 Zuschauer an der Hafenstraße mussten eine emotionale Berg- und Talfahrt durchleben. Auch wenn RWE in der Schlussphase nach zwischenzeitlichem 0:2-Rückstand drauf und dran war, noch den Siegtreffer zu erzielen, muss über Durchgang eins geredet werden. Zwar war das Trainerduo gezwungen, die Viererkette komplett umzustellen und dass dann noch ausgerechnet Kapitän und Abwehrchef Denny Herzig früh mit einer Rückenverletzung raus musste (17.), trug nicht unbedingt zur Stabilität bei. Zu diesem Zeitpunkt waren die Bochumer aber längst durch Andreas Johansson und einen kollektiven Sekundenschlaf des RWE-Defensivriegels in Führung gegangen. Als Oliver Zech Mirkan Aydin kinderleicht in Szene setzte und der Stürmer nur noch ins leere Tor zum 2:0 einzuschieben brauchte, herrschte plötzlich eine Totenstille, wie man sie an der Hafenstraße lange nicht mehr erlebt hatte. Den Fans stand das Entsetzen ins Gesicht geschrieben, RWE drohte, sich der Lächerlichkeit preiszugeben. "Keiner im Stadion hat mehr einen Pfifferling auf uns gesetzt", bemerkte RWE-Trainer Ralf Aussem.
Doch unter freundlicher Mithilfe des VfL-Keepers Andreas Luthe und einer zum Schluss kämpferisch absolut überzeugenden Leistung brachten die Gastgeber eines der größten Comebacks seit Lazarus zustande. Luthe, der zuvor bereits einen Kopfball von Sascha Mölders unterschätzte und Glück hatte, dass der Ball nur an die Latte tropfte, traf beim ersten Gegentreffer jedoch keine Schuld. Warum die VfL-Abwehr den Goalgetter zentral vor dem Tor unbedrängt zum Schuss kommen ließ, blieb ihr Geheimnis. So kamen die Hausherren quasi ohne eigenes Zutun noch vor der Pause wieder ran. Etwas Zuversicht, wenn auch in homöopathischer Dosis. Zu wahrem Optimismus war die Leistung der Essener wahrlich nicht angetan.
Die Szenen, die dem Spiel die Wende verpassten, spielten sich nun offenbar hinter verschlossenen Kabinentüren statt. Denn die Heimmannschaft kam zwar personell unverändert und doch wie ausgetauscht aus den Katakomben. Angesprochen auf das vermeintliche Donnerwetter klärte Uwe Erkenbrecher auf: "Wir haben gesagt, dass es nur um uns geht. Nicht um den Verein oder irgendetwas, sondern nur darum, dass wir uns da rausziehen. Wir hatten das Gefühl, dass die Mannschaft bis zum Hals im Sumpf steckt. Wenn man dann noch draufhaut, bist du ganz weg, also haben wir gar nicht geschimpft." Die Worte und der Appell an das Wir-Gefühl wirkten trotzdem. RWE fackelte zwischenzeitlich sogar einen Sturmlauf ab, das Team von Trainer Nico Michaty hatte kaum noch etwas entgegenzusetzen. Weshalb der Coach trotz toller erster 45 Minuten resümierte: "Über 90 Minuten gesehen geht das in Ordnung, obwohl ich noch etwas hin- und hergerissen bin, ob das jetzt ein Punktgewinn oder ein doppelter Punktverlust war." Schließlich gelang es RWE aber erst durch einen Fehler von Luthe der Ausgleich. Der Keeper schien einen eigentlich dankbaren Torwartball bereits sicher zu haben, ließ ihn jedoch wieder fallen - ausgerechnet vor dem einschussbereiten Mölders (56.).
So kommen die "Roten" mit einem blauen Auge und dem Schrecken der ersten Hälfte davon. Die "Blauen" müssen dagegen aufarbeiten, warum sie nach überzeugendem ersten Durchgang schließlich noch Gefahr liefen, mit leeren Händen die Heimreise antreten zu müssen. Wenigstens gab's noch ein Sonderlob mit auf den Heimweg. Erkenbrecher schnaufte kräftig durch und erkannte: "Bochum ist eine echte Spitzenmannschaft. Besseres wird man in dieser Liga nicht vorgesetzt bekommen."