Dieser Platzsturm machte allen Spaß. Nachdem Trainer Pal Dardai das Kieztraining von Hertha BSC beim Siebtligisten TSV Mariendorf beendet hatte, rannten die Fans auf den Rasen zu ihren Idolen. Die Spieler waren schnell umzingelt, sie schrieben sich bei den vielen Autogrammen die Finger wund und lächelten auch beim x-ten Selfie-Wunsch freundlich in die Handykamera.
"Wir freuen uns, wenn wir solche Aktionen während der Saison machen", sagte Nationalspieler Marvin Plattenhardt dem SID: "Man sieht, dass es viele Hertha-Fans gibt, das ist natürlich sehr schön für uns." Dardai hoffte, dass die vielen kleinen Besucher irgendwann "auch alle Herthaner sind".
Wer am Dienstagnachmittag dem Auftakt von Herthas Kieztour vor rund 2500 begeisterten Fans beiwohnte, der konnte kaum glauben, dass der Fußball-Bundesligist ein Zuschauer-Problem hat. Seit Jahren hat die Alte Dame große Schwierigkeiten, das riesige Olympiastadion zu füllen. Meist bleibt es wie in der vergangenen Saison mit einem Schnitt von 42.945 Zuschauern fast halb leer.
Dabei ist das Potenzial angesichts von 3,5 Millionen Berlinern so groß wie bei keinem anderen Bundesliga-Standort. Das Problem ist nur: Vielen ist Hertha BSC egal, vor allem den Dazugezogenen. Um dies zu ändern, fährt der Klub seit geraumer Zeit eine auf Digitalisierung und Innovation abzielende Marketing-Offensive.
Doch der harte Kern der Hertha-Fans fremdelt mit diesem neuen Zeitgeist, die Ostkurve sucht mit provozierenden Plakaten bei Heimspielen ("Wer zu viele Smileys postet, dem vergeht irgendwann das Lachen. Keuter, dein Ende naht!") offen den Konflikt. Im Zentrum der Kritik steht Paul Keuter. Der frühere Twitter-Sportchef in Deutschland ist seit Januar 2016 Mitglied der Geschäftsführung. Sein Aufgabenfeld: Weiterentwicklung von digitalen Geschäftsmodellen und die damit verbundene strategische Ausrichtung des Klubs.
Nach viel Kritik wurde der englische Werbespruch "We try. We fail. We win" wieder eingestampft. Doch auch die neue Saison-Kampagne, mit der sich Hertha selbst ein wenig auf die Schippe nimmt, kommt nicht überall gut an: "In Berlin kannst du alles sein. Auch Herthaner."
Für viele Anhänger versucht der Klub zu angestrengt, frech und modern auf die jungen Leute aus Berlin Mitte oder dem Prenzlauer Berg zu wirken, anstatt sich auf seine Wurzeln zu besinnen. Bestes Beispiel ist der Hymnenstreit. Zur neuen Saison sollte Frank Zanders "Nur nach Hause" nicht mehr beim Einlaufen der Mannschaft gespielt werden, sondern davor. Stattdessen sollte der Song "Dickes B" von der Berliner Band Seeed aus den Lautsprechern dröhnen.
Dagegen liefen die Fans Sturm, jetzt soll Zanders Kultsong wieder direkt vor dem Anpfiff gespielt und so oft es geht auch live von Zander gesungen werden. "Sie haben wohl nicht gemerkt, dass sie in ein Wespennest gestochen haben, so eine Reaktion haben sie nie und nimmer erwartet", sagte Zander.
Der Spagat zwischen Tradition und Moderne scheint für Hertha besonders schwierig. Umso wichtiger seien Auftritte zum Anfassen wie am Dienstag, sagte Mariendorfs Klubpräsident Günter Kube: "Der Kontakt der Fans zur Mannschaft ist in den letzten Jahren verloren gegangen." sid