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Bild-Zeitung von gestern.
17.55 Uhr, Autobahn auf dem Weg zur EM-Arena in Essen „Rufen Sie uns an und sagen sie uns: Wie gehen sie mit der Spannung um?“, fragt das Autoradio um kurz vor 18 Uhr. Und während ich mich noch frage, warum ich überhaupt nicht nervös bin, setzt sich der WDR schon für die Völkerverständigung ein und legt türkische Musik auf.
18.10 Uhr, Club Taksim Bochum, größte türkische Disco in Europa Mustafa empfängt mich und erklärt mir, wie der Abend im Taksim ablaufen soll: „Ansonsten achten wir schon darauf, dass die Leute hier in vernünftiger Kleidung herkommen. Aber heute drücken wir beide Augen zu und akzeptieren auch eine lockere Garderobe.“ Ich spreche mit ihm ab, dass er mir per Handy einige Stimmungsmeldungen durchgibt. „Kein Problem“, bestätigt er und legt mir die Hand beschwichtigend auf die Schulter, „ich kenne das Geschäft und habe alles im Griff.“
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18.25 Uhr, EM-Arena, Essen Das sollte es in Sachen Internationalität in Essen allerdings erst einmal gewesen sein. Um viertel nach sechs sind in der „EM-Arena“ in der Messehalle 6 alle Sitzplätze besetzt. Ausschließlich von Deutschland-Fans. Dazu passend driftet die Musik vom Fetenhits-Niveau langsam aber sicher in die Mickie Krause-Liga. Dönerbuden sind Fehlanzeige, stattdessen gibt es die unvermeidliche Currywurst-Pommes, und ich werde, nur weil ich aus Versehen ein rotes T-Shirt trage, schon als Verräter gebrandmarkt. Während schon zwei Stunden vor Anpfiff ein überhebliches „Oh wie ist das schön“ aus den Boxen dröhnt, ist Tippabgabe. A. haut ein 5:0 für die Deutschen raus, die pessimistischste Prognose lautet 2:1 für die DFB-Auswahl.
19.10 Uhr, Herner Fußgängerzone Schon den ganzen Tag über lag eine fiebrige Stimmung in der Luft. Vielen Menschen im Trikot, überall Fahnen, rot oder schwarz-rot-gold.
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Sonic Ballroom, Köln.
20.15 Uhr, Sonic Ballroom, Köln Ankunft am Sonic Ballroom, einer sympathischen Punkrock-Kneipe in Köln-Ehrenfeld. Biergarten anscheinend schon seit 19 Uhr überfüllt. Nachdem ich mein Reporter-Anliegen vorgetragen habe, wird mir direkt vor der Leinwand noch ein Plätzchen auf einer Bierbank freigemacht. Insgesamt sind ca. 250 Leute anwesend, davon ca. 20% mit deutschem Trikot.
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Sonne, Herne
20.43 Uhr, Gaststätte Sonne, Herne Die Szene-Kneipe ist rappelvoll. Die Nationalhymne dröhnt aus den Lautsprechern und tatsächlich stehen einige auf und singen mit. Sogar die dritte Strophe, fehlerfrei und textsicher. Ansonsten saufen und kiffen sich die Jungens und Mädchen die Birne zu, aber jetzt demonstrieren sie Party-Patriotismus. Ich bin schockiert über diesen moralischen Verfall der Jugend.
20.58 Uhr, EM-Arena, Essen Kazim lässt die Latte erzittern, und plötzlich merken die vielen Leute, dass das Spiel nicht so läuft, wie sie dachten. Aber ganz und gar nicht.
21.01 Uhr, Sonic Ballroom, Köln Neben mir referiert ein blondes Mädel: "Seit dieser WM (!) bin ich auch Spanien-Fan". Meine Ergebnis-Tasche wird bestaunt, aber als später das türkische Tor fällt, möchte keiner das 0:1 auf meiner Tasche umkletten.
21.09 Uhr, Freibeuter, Bochum Anfangs wurde noch darüber gewitzelt, dass die Deutschen die Türken nur „auslaufen lassen“. Jetzt machen sie auch noch ein Tor! Nach der ersten Schrecksekunde klatschen wir Dortmunder, Bochumer und Schalker uns beim Ansehen der Zeitlupe ab: „Nächstes Jahr gegen Lehmann. Hurra!“
21.23 Uhr, Sonic Ballroom, Köln Das deutsche Spiel wird besser. Neben mir Geschrei: "Wenn die Scheiß-Bildregie jetzt wieder Spielerfrauen einblendet, gehe ich."
21.38 Uhr, EM-Arena, Essen Halbzeit. Ein Bier holen oder Pipimachen ist in der rappelvollen Halle in einer Viertelstunde kaum zu schaffen. Dass Ballack und Co. unter aller Kanone spielen, stört die Besucher im VIP-Bereich am wenigsten. Da wird feist aus den Sesseln im Gelsenkirchener Barock gegrinst, die nächste Runde Stauder geordert und erstmal eine dicke Zigarre angemacht.
21.39 Uhr, Club Taksim, Bochum Am Telefon: „Mustafa?“ - „Hallo! Kann nicht sprechen, muss feiern. Etwa 500 Leute hier. Spiel super, unsere Mannschaft super, Stimmung super. Tschüß.“ Mir kommt der Gedanke, dass ich doch noch an der Detailbesessenheit meiner Außenreporter arbeiten muss.
21.50 Uhr, Freibeuter, Bochum Zweite Halbzeit. Wie die Zuschauer scheinen auch die lethargisch agierenden Spieler gefangen im Käfig ihrer eigenen Arroganz: Beide können nicht fassen, was passiert. Bei Fehlpässen prasseln die Flüche gegen die Leinwand. Die Spieler agieren lethargisch, ich übernehme die Initiative und hole mir noch ein weiteres Bier. Diese Mischung aus Verachtung für das deutsche Spiel und das Mitzittern für „unsere Jungens“ macht mich fertig. Das Spiel ist nur besoffen zu ertragen. Diesen Zustand gilt es jetzt schnellst möglichst zu erreichen. Redelings Ende.
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22.03 Uhr, Gaststätte Sonne, Herne Das Bild ist weg. Verzweifeltes Kreischen. Es klingt, als ob Tokyo Hotel gerade die Bühne betreten hätte. Hat denn hier niemand Ausweiskontrolle gemacht? Danach folgt die Trotzreaktion: „Oh, wie ist das schön, so was hat man lange nicht gesehen.“ Plötzlich kommt 1954er Stimmung auf. Wir alle vor dem Volksempfänger. Aber Basel ist nicht Bern und Béla Réthy nicht Herbert Zimmermann. Sein Versuch einen Radioreporter zu mimen, scheitert kläglich.
22.12 Uhr, Gaststätte Sonne, Herne Galip reicht mir einen Zettel: „Bir oyun doksan dakika sonunda Almanya galip“, steht darauf. Ich schaue ihn irritiert an. „Das heißt: Ein Spiel dauert neunzig Minuten und am Ende gewinnt Deutschland“, sagt er mir und fügt hinzu: „Den kannste für deinen Blog behalten.“ Er ahnte wohl in diesem Augenblick noch nicht, wie sehr er Recht behalten sollte.
22.23 Uhr, EM-Arena, Essen Beim zweiten Bildausfall ist Schluss mit lustig. Als Kloses Kopfball Deutschland zurück auf die Siegerstraße bringt, ist zwar das Bild wieder da, doch sehen tausende noch, wie Lahm zur Flanke ansetzt, während der Ton schon das 2:1 bejubelt.
22.23 Uhr, Sonic Ballroom, Köln Tor Deutschland! Das Bild war gerade rechtzeitig wieder da und man verlangt nach meiner Ergebnistasche um den korrekten Spielstand umzukletten.
22.24 Uhr, Sonne, Herne „Das ist alles ein Fake, wie die Mondlandung“, stichelt M. Er glaubt an die große Verschwörungstheorie und verdammt den „Zufall“ im Fußball. Er, Physiker von Beruf, versucht es mir, mit der Gaußkurve und irgendwelchen Teilchen zu erklären. Das konfuse Spiel, die Asynchronität von Bild und Ton und diese wirren Theorien machen mich fertig.
22.31 Uhr, Club Taksim, Bochum Das 2:2. Schnell ein Handycall nach Bochum: „Mustafa?“ – „Nicht Mustafa, hier Ümit. Mustafa tanzen. Tschüß.“
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Abklatschen der Bochumer, Dortmunder und Schalker: Nächstes Jahr gegen Lehmann.
22.32 Uhr, Sonic Ballroom, Köln Mein schüchterner Einwand, dass es jetzt nach Verlängerung riecht, wird mit einem kurzen "Setz dich hin und schreib weiter" abgebügelt. Ich setze mich wieder hin und schreibe weiter.
22.34 Uhr, EM-Arena, Essen 30. Juni 2006, 30. Juni 1996 und 8. Juli 1990 – historische Daten, die mir spontan in den Sinn kommen. Das Elfmeterdrama gegen Argentinien, Bierhoffs Golden Goal in London und Brehmes römischer Strafstoß für die Ewigkeit, mit diesen – selbst miterlebten und unvergessenen – Fußballmomenten muss ich Lahms grandioses Siegtor auf eine Stufe stellen. Offensichtlich geht es tausenden im ekstatischen Rausch ebenso. Die Gänsehaut verschwindet erst nach langen Sekunden wieder. Der Autokorso kann kommen!
22.34 Uhr, Sonic Ballroom, Köln Lahms Siegtor verwandelt den Biergarten in eine freudentaumelnde Masse. Die Frage an die Kellner, ob es hier Raki gibt, wird bedauernd verneint. Mehrere Gäste wollen sich mit meiner Ergebnistasche fotografieren lassen.
22.44 Uhr, Sonne, Herne Blitzschnell hat sich die Kneipe geleert. Die Leute drängen auf die Straße. Wir in der ersten Reihe sitzen gefasst und schweigend. „Genau dafür hasse ich Deutschland“, zetert M. „Sie machen ein gutes Spiel und stehen im Finale und mit dem Portugal-Spiel bauen sie jetzt schon ihren Mythos auf.“
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Besucher des Sonic Ballrooms mit "korrektem" Ergebnis auf der Ergebnistasche.
23.18 Uhr, Gott alias Franz Beckenbauer im TV-Interview „Ja mei. Die Türken haben gut gespielt, das wusste man, aber dass sie auch noch Tore machen können: Jahaha.“ Nee, das war wirklich gemein von denen.
23.15 Uhr, Venloer Straße, Köln Heimweg über die Venloer Straße. Als ich einem älteren Türken die Hand reiche und zu dem schönen Spiel seiner Mannschaft gratuliere, muss sein Sohn meinen Glückwunsch übersetzen. Er lächelt und gratuliert mir wiederum auf Türkisch.
23.45 Uhr, Herner Fußgängerzone An einer Bank in der Fußgängerzone stehen tatsächlich deutsche und türkische Fans zusammen und reden. Im türkischen Café an der Ecke werden schon wieder die Rommee-Steine gemischt. Deutschland hat 3:2 gewonnen, wie damals 1954, wie gegen Portugal. Die Erde sich weiter, und es gibt doch eine kosmische Ordnung – wenigstens im Fußball.
Es berichteten: Renate Hosenberg (Köln), Ralf Piorr (Herne), Ben Redelings (Freibeuter, Bochum), Elmar Redemann (EM-Arena, Essen) und Mustafa Y. (Club Taksim, Bochum).
Renate kickt normalerweise unter tippserver.de/em/, Ben Redelings unter scudetto.de/ und Mustafa ist bis jetzt verschwunden.