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Was mache ich bloß heute Abend?
Das Erschrecken begann am Montagmittag. Was mache ich eigentlich heute Abend? Plötzlich drängte sich eine Frage auf, die sich seit Wochen anhand des EM-Spielplans von selbst beantwortet hatte. Die Veranstaltungsmagazine für Juni lagen quasi unberührt in einer Ecke. Wen interessieren schon Kino, Konzerte und Theater, wenn man Ronaldo, Buffon, Ballack & Co. jeden Abend frei Haus bekam. Oder besser gesagt via Beamer und Leinwand in meine Stammkneipe, wo die Kumpels schon brav und allesamt auf den seit 14 Jahren angestammten Plätzen warten. Wir können uns zwei Jahre nicht sehen, aber zum Eröffnungsspiel finden wir uns selbstverständlich in der ersten Reihe ein, schmeißen unser Geld in das Glas, das als abendliche Tippkasse dient, und setzten unser Gequatsche fort, als wäre nichts gewesen. Und jetzt soll diese Selbstvergewisserung unserer an sich fragilen Existenz schon wieder vorbei sein?
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Das Methadon-Programm am Mittag: Die Pressekonferenz.
Das Ende des Turniers ist bereits abzusehen und wieder drängt sich dieser unweigerliche Trennungsschmerz auf, wie am Ende jeder intensiven und tiefen Beziehung. Unser aller Guru Nick Hornby schrieb in „Fever Pitch“: „Ich verliebte mich in den Fußball, wie ich mich später in Frauen verlieben sollte: plötzlich, unerklärlich, unkritisch und ohne einen Gedanken an den Schmerz und die Zerrissenheit zu verschwenden, die damit verbunden sein würde.“ Diese Ur-Emotion kann ich heute angesichts der Dauerwerbesendung Bundesliga und dem operettenhaften Getöse um die Champions League nicht mehr teilen. Samstags knicke ich mir sogar oftmals die Sportschau und belasse es bei der guten alten Radiokonferenz - von Premiere ganz zu schweigen. Aber bei den Turnieren ist es etwas anderes. Sie sind echt und wahr und nirgendwo sonst gibt es diese Dichte an Erfahrung, Emotion und ungestümer Leidenschaft. Man kann in sie eintauchen und wochenlang verschwinden. Ihre Dramatik überrascht immer wieder, und man ist von einem Moment auf den anderen Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt. Die Tage regeln sich wie von selbst. Es ist ein rauschhaftes Leben im Jetzt. Nur sind der Kater und die Depression schon vorprogrammiert: Spätestens am Sonntag, nach dem Endspiel.
Und es sind noch 717 lange Tage bis Südafrika.