Es ist die große Macht kleiner Gesten, die Jürgen Klopp besitzt. Der Trainer des FC Liverpool steigt am Mannschaftshotel in Kiew gut gelaunt und im gewohnten Look aus dem Mannschaftsbus. Trainingsanzug, Rucksack, weiße Turnschuhe. Vor dem Eingangsbereich der Fünf-Sterne-Unterkunft Intercontinental warten Fans, die den deutschen Trainer zu sich rufen. Klopp bemerkt das. Gerne geht er auf die Liverpool-Anhänger zu. Ein weiblicher Fan übertreibt es mit der Zuneigung und versucht ihn zu küssen. Klopp weicht dem Versuch elegant aus, nimmt die blonde Dame dennoch in den Arm. Sie ist auch ohne Kuss zufrieden.
Diese kleinen Gefälligkeiten haben den früheren Trainer von Borussia Dortmund in Liverpool zum Publikumsliebling gemacht. Dazu hat auch der Erfolg seiner Mannschaft beigetragen. Klopp hat den Verein aus dem Norden Englands erstmals seit elf Jahren wieder in das Finale der Champions League geführt. Dort treffen die Reds heute (20.45 Uhr, ZDF) im Olympiastadion der ukrainischen Hauptstadt auf Real Madrid. Das Star-Ensemble um Weltfußballer Cristiano Ronaldo steht zum dritten Mal in Folge im Endspiel der Königsklasse und kann den Titel-Hattrick feiern.
Die Spanier gehen als Favorit ins Spiel. Klopps Mannschaft bleibt in diesem Duell nur die Rolle des Underdogs. Das ist dem 50 Jahre alten Fußball-Lehrer nicht neu. 2013 stürmte er mit dem BVB ins Finale. Damals unterlag er dem FC Bayern im Wembley-Stadion mit 1:2. Jetzt erhält Klopp seine zweite Chance.
Der Trainer hat seinem Team etwas voraus. Keiner seiner Spieler stand zuvor in einem Champions-League-Finale. Nun wartet die wohl beste Mannschaft Europas. Doch am Tag vor dem Spiel strotzt Klopp vor Selbstvertrauen: „Erfahrung ist ein Vorteil, der vor dem Anstoß ein Gefühl der Stärke verleiht. Mit dem Anpfiff spielt das keine Rolle. Real Madrid hat eine großartige Mannschaft. Aber sie kennen uns noch nicht. Wir sind Liverpool. Dieser Verein hat die DNA, große Dinge zu erreichen.“
Der gebürtige Stuttgarter greift nach seinem ersten Titel mit dem FC Liverpool. Im Oktober 2015 hatte Klopp das Amt vom glücklosen Brandon Rodgers übernommen. Sein Auftrag umfasste auch, dass der fünfmalige Sieger im Europapokal der Landesmeister und im Nachfolgewettbewerb Champions League wieder Trophäen sammeln soll. Erfüllt hat Klopp diese Aufgabe noch nicht. In seinem ersten Jahr an der Anfield Road stand er im Finale des Ligapokals und der Europa League. Beide Spiele wurden verloren. Auch zuvor in den letzten drei Endspiele mit dem BVB gab es nichts zu gewinnen. In Kiew droht ihm die sechste Pleite in Folge. Es wäre der größte Makel einer sonst imposanten Karriere.
Erfolg mit „Heavy-Metal-Football“ Seinem Ansehen als Trainer würde das vielleicht schaden, seiner Beliebtheit nicht. Was beim BVB noch Vollgasveranstaltung hieß, ist in England „Heavy-Metal-Football“: Mit dynamischem Offensiv-Spielstil, Emotionalität und Charisma hat sich Klopp einen Platz in den Herzen der Menschen in Liverpool verschafft. „Er ist sehr authentisch, deshalb will sich auch jeder Spieler für ihn auf dem Platz zerreißen“, sagt Liverpools deutscher Torwart Loris Karius.
Fehlt also nur noch ein Sieg zur Vollendung. Dazu muss eine Ausnahme-Leistung der Topstürmer Mohamed Salah, Roberto Firmino und Sadio Mané gegen Madrid her. Sollte das gelingen, wäre das auch Jürgen Klopps größter Erfolg.