Und so allmählich weiß er, worauf er sich eingelassen hat. „Man hat mich mit schönem Wetter aus Jena gelockt. Dann hat es in den ersten vier Wochen, in denen ich hier war, nur an zwei Tagen nicht geregnet“, meint er. Auch fällt es ihm schwer Anschluss zu finden im Ruhrgebiet. „Nach der Arbeit sind meine Frau Lina und ich immer alleine. Wir wissen gar nicht, was wir machen sollen.“ Soziale Kontakte? Fehlanzeige. Klingt komisch - ist es auch. Wer auf der ersten Pressekonferenz in das Gesicht von Kraus blickte, merkte schnell: Es war nicht etwa der verzweifelte Versuch, bei Manager Willi Wißing eine Vertragsauflösung zu erwirken. Vielmehr war es seine Art, freundlich, aber sarkastisch auf die zum x-ten Mal gestellte Frage zu antworten, wie es ihm denn im Ruhrgebiet gefalle. Eine Chance hätte er bei Wißing ohnehin nicht gehabt, denn der hat Kraus schon für sechs Jahre verplant. „Agolli und Högner waren ja auch so lange bei uns.“
Heiter und gut gelaunt: So ist die Stimmung beim ersten offiziellen Auftritt von Kraus. Und das nur wenige Tage bevor am Samstag (14 Uhr) der Startschuss in Saison fällt. Und dann geht es auch noch gleich im Ruhrderby beim langjährigen Rivalen MSV Duisburg zur Sache. Doch von Stress oder Anspannung fehlt noch jede Spur. Zumindest äußerlich. „Ich freue mich, Teil der SGS-Familie zu sein. Nach neun Wochen Vorbereitung wollen wir jetzt einfach starten und drei Punkte holen.“ Womöglich sind es die Testspielergebnisse, die bei Kraus für eine derart gelöste Stimmung sorgen. Lediglich bei einem internationalen Turnier in Frankreich kassierte die SGS im Endspiel gegen den Liga-Rivalen SC Freiburg eine Niederlage (0:1). Ansonsten mussten einem die Gegner fast leid tun. Heerenveen (7:0) und Zwolle (5:0) kamen zuletzt ordentlich unter die Räder. Den Zusammenschnitt der Tore schaut man sich auf der Pressekonferenz gerne an.
In Euphorie verfällt Kraus dabei aber nicht. Wie auch seine Vorgänger scheint er die Entwicklungen der Liga realistisch einzuschätzen. Bayern München und der VfL Wolfsburg sieht er uneinholbar vorne, die anderen Klubs mehr oder weniger gleichauf. „Wir müssen uns sicher nicht verstecken, aber hart arbeiten und 100 Prozent geben – im Training wie im Spiel.“ Und was er darunter versteht, hat er seinen Spielerinnen schon deutlich gemacht.
Sich selbst beschreibt er als detailversessen, die Spielerinnen nennen ihn einen Perfektionisten. Eigenschaften, die er womöglich von seinem Vater Harald Vollmar hat. Der nämlich war als Sportschütze Millimeter-Entscheidungen gewohnt. Und das nicht ohne Erfolg: Vier Mal startete Vollmar zwischen 1968 und 1980 bei den Olympischen Spielen und gewann einmal Bronze und zwei Mal Silber. „Ich strebe nach dem Maximalen für den größtmöglichen Erfolg“, sagt der Sohn. Und ihn dabei zufrieden zu stellen, ist gar nicht so leicht. Da kann eine Trainingseinheit schon mal die drei Stunden-Marke knacken. So viele taktische Anweisungen wie im Moment sind den Spielerinnen bisher nicht um die Ohren geflogen. Als Belohnung für die harte Arbeit peilt der 32-Jährige einen Platz im Mittelfeld an. Nach Möglichkeit einer etwas weiter oben als in der Vorsaison. Das wäre im schlechtesten Fall Rang vier. Ein klein wenig Euphorie war wohl doch dabei.