Doch die Anreise war vergebens, denn just zu dem Zeitpunkt als das Team auf dem Rasen erwartet wurde, trafen sich Vorstand, Trainerstab und Mannschaft im benachbarten Castrop-Rauxel zu einem geheimen „Katerfrühstück“ im Hotel Goldschmieding.
Knapp eineinhalb Stunden wurde Tacheles geredet, die Mannschaftssitzung, die sonst in der Kabine stattfindet, einmal abseits vom Stadion durchgeführt. VfL-Vorstand Thomas Ernst zeigte sich überrascht, dass der Ausflug in die Nachbarstadt nicht geheim blieb, klärte aber sachlich auf: „Wir haben uns über das Spiel und die ernste Situation ausgetauscht. Wir wollten einmal etwas anderes machen.“
Eine Aussprache, die nötig war. Denn seit Freitagabend, 22.20 Uhr, gehört der VfL wieder zu den ganz heißen Abstiegskandidaten. 26.000 Zuschauer im gut gefüllten rewirpowerStadion hatten zuvor ein Spiel erlebt, wie sie es sich als schlimmsten Alptraum nicht hätten vorstellen können. Denn allen guten Vorsätzen zum Trotz, unterlagen die Blau-Weißen gegen die bis dato auswärts sieglosen Niedersachsen mit 0:2.
Schon der Einstieg in die Abendpartie hätte nicht schlimmer laufen können. Denn zu den vier Dauerverletzten gesellte sich auch noch Matias Concha mit einer fiebrigen Mandelentzündung. Berücksichtigt man, dass mehrere Spieler beim VfL, darunter auch die Innenverteidiger, sich wochenlang mit Verletzungen herumschleppten und zwei Akteuren sofort nach Saisonschluss eine Operation droht, dann wird es verständlich, unter welcher Anspannung das Team stand. Wohlwissend, dass bei einer Niederlage die Erstligaexistenz nur noch am seidenen Faden hängt.
Doch das alles wäre wahrscheinlich kein Thema gewesen, hätte Mimoun Azaouagh das Zuspiel von Stanislav Sestak im gegnerischen Kasten versenkt. Denn die Anfangsphase des VfL vermittelte jedem auf den Rängen, dass die Mannschaft gewillt war, alles für den dringend benötigten Dreier zu tun. Um so grausamer, wie das Team dann, in Sekunden, vorausgegangen war ein Yahia-Fehlpass, nach dem 0:1 innerlich zusammenbrach. Ballverluste, haarsträubende Abspielfehler, unkluges Zweikampfverhalten, die schlechtesten Minuten der gesamten Saison schienen sich wie ein Virus in den blauen Trikots zu verbreiten.
Allen voran die sonst so routinierten Innenverteidiger Anthar Yahia und Marcel Maltritz sowie Slawo Freier, der schon nach 42 Minuten seinen Platz für Vahid Hashemian räumen musste. Dass Kapitän Maltritz symbolisch für die ganze Mannschaft den Kopf herhalten musste und gnadenlos „abgestraft“ wurde, machte alle noch konfuser. Kurz: Der VfL spielte 33 Minuten desolat und orientierungslos. Trainer Marcel Koller: „Statt in Führung zu gehen, liegen wir nach einem individuellen Fehler früh zurück, waren danach viel zu hektisch und haben keine Ruhe in unsere Aktionen bekommen.“ Mike Hanke, der in der Jugend des VfL aufwuchs, hätte bereits vor der Pause das Spiel entscheiden können. Da war es schon bemerkenswert, was in Abschnitt zwei passierte. Am Beispiel der beiden Innenverteidiger aufgezeigt, die in den zweiten 45 Minuten fehlerlos agierten und keine Chance für die Gäste mehr zuließen. Im Gegenteil. Die VfL-Chancen häuften sich, und mit der Einwechslung von Joel Epalle gab es einen Sturmlauf, dem allein Gästekeeper Robert Enke immer wieder im Weg stand. Als Hashemian dann (69.) den Ball endlich an seinem Ex-Kollegen vorbei schoss, sprang er vom Innenpfosten zurück in die Arme des Torhüters. Es sollte einfach nicht sein.
96-Coach Dieter Hecking: „Uns war klar, dass der VfL in der zweiten Halbzeit alles probieren würde. Über unseren Torwart muss man nicht viele Worte verlieren. Sicherlich haben wir in der einen oder anderen Situation etwas Glück gehabt.“ Koller richtete den Blick hingegen nach vorne: „Ich habe der Mannschaft gerade gesagt, dass wir - und nur wir - da unten herauskommen können. Und ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass wir am Ende die Klasse erhalten werden.“