Das Innere der Kneipe wird dominiert vom großen Bildschirm, vor dem schon ein halbes Dutzend Schalke-Fans mit eingeschränkter Aufmerksamkeit die Vorberichterstattung von Premiere verfolgen. Das liegt an der noch geringen Lautstärke des Fernsehers, der kaum konkurrieren kann mit dem Gesang des "Männergesangsvereins Concordia von 1911", der Liedgut zwischen deutschem Wald und Wanderromantik einstudiert.
Dann öffnet sich die Eingangstür und zusammen mit den Rauchern kommt Rudi Gutendorf, begleitet von seinem Freund Ferhat, herein. Er kommt an unseren Tisch und setzt sich zu uns. "Ich bin der Rudi", sagt er schlicht und reicht allen am Tisch die Hand. Eine Fußball-Legende, der weltweit 54 Trainerstationen hinter sich gebracht hat, dafür im Guinness-Buch der Rekorde verzeichnet ist. Einer, dem sie das Bundesverdienstkreuz an die Brust geheftet haben.
Aber all das ist an diesem Abend egal. Jetzt zählt die Champions League, das Spiel Schalke 04 gegen den FC Barcelona, dem Weltklasseklub gegen den die Königsblauen laut Kommentator Marcel Reif noch niemals gespielt haben. "Das stimmt doch überhaupt nicht", wirft Rudi ein, "damals, Ende der 60er Jahre haben wir im Camp Nou ein Turnier mit Manchester United, Barcelona und noch einem Weltklasseverein gespielt."
Er sagt "Barzelona", das Volkstümliche hat über das Weltmännische obsiegt. Gutendorf ist mit den Beinen auf dem Boden geblieben, auch wenn er in seinem Leben sicher mehr Flugkilometer zurückgelegt hat als alle anwesenden 20 Kneipengäste zusammen. Das macht ihn sympathisch, jeder hier kennt und respektiert ihn.
Rudi bestellt ein Pils und einen Wacholder, bei der Wahl zwischen einem lokalen oder einem Fernsehwerbebier entscheidet er sich ebenfalls fürs Bodenständige. Ernst Kuzorra kommt einem da in den Sinn, der in der Vereinskneipe an der Glückauf-Kampfbahn seinen Stammplatz hatte und sich nicht den ganzen Abend über an einem Gedeck festhielt.
Aber die Assoziation täuscht, es bleibt Gutendorfs einziges Bier an diesem Abend. Ferhat hat gerade das Arrangement fürs Rückspiel klar gemacht, knappe zwei Tage Barcelona für nicht einmal 200 Euro, Flug, Transfers, Übernachtung und Ticket inklusive. Der Neid der Umsitzenden ist ihm gewiss, aber sein Begleiter sieht das gelassener. "Mir wäre das zuviel!" lässt ihn Gutendorf wissen, er ist schließlich in einem Alter, in dem sich so mancher das Essen auf Rädern bringen lässt und nicht mit anderen Fußballverrückten in einer Eckkneipe mit einem Verein mitfiebert.
Den hat der Globetrotter vor nunmehr 40 Jahren trainiert und noch immer fallen den älteren Schalkern die Anekdoten dieser Zeit ein. Die Mannschaft, die er morgens um 6 Uhr an den Werkstoren der Gelsenkirchener Schwerindustrie vorbeilaufen ließ, "damit die Malocher sehen, dass wir auch hart arbeiten". Auch die Versuche, den Spielern vor dem Halbfinal-Rückspiel bei Manchester City, das an Englisch-Kenntnissen beizubringen, was man heute "Basics" nennen würde. Dies verleitete aber Stan Libuda zu dem Faux Pas, er sei der Rechtsaußen, der "white ring".
Helmut Rahn, Rudi Gutendorf, Heinz Höher und Manfred manglitz.
Gutendorf, hat trotz der vielen Jahre im Ausland und seiner Reisen um den Globus nie den Kontakt zu der Region abreißen lassen, in der er seine Wurzeln hat. Hier im Stadtteil, hier in Koblenz-Lützel ist er geboren, hier hat er seine ersten fußballerischen Schritte getan und das zu einer Zeit, in der einer wie er, der vom heimischen VfB zur TuS in den benachbarten Stadtteil Neuendorf gewechselt ist, noch als Verräter galt. Das wissen auch in Koblenz heute nur noch die Alten. Gemeinhin gilt Gutendorf als Neuendorfer Urgestein, einer derjenigen, der dem Fußball hier in der Provinz ein Gesicht gegeben hat.
Er liebt seinen Verein, der seit etlichen Jahren schon TuS Koblenz heißt und neuerdings einen nie geahnten Aufschwung genommen hat. Zweite Bundesliga, das schreibt er sich auch ein wenig auf seine Fahne. "Der Milan", damit meint er den jetzigen Trainer des vom Absturz ins Nichts der neuen dritten Liga, wenn nicht gar der dann viertklassigen Regionalliga bedrohten 1. FC Kaiserslautern, "der Milan ist doch mit meinem System, mit der starken Abwehr erfolgreich gewesen. Der macht doch jetzt in der Pfalz auch das Gleiche."
Das erinnert an seinen wohl für immer mit ihm verbundenen Spitznamen "Riegel-Rudi", den er sich mit dem Mauerfußball beim damals noch Meidericher SV heißenden heutigen MSV Duisburg verdient hat. "Hinten dicht machen, vorne zwei, drei schnelle Leute, die auch mal ein Tor machen können. Das hat damals funktioniert und das funktioniert auch noch heute."
Mittlerweile hat sich die fußballinteressierte Hälfte der singenden alten Herren von "Concordia" zu uns gesetzt, nicht ohne die Anregung, blau-weißes Liedgut anzustimmen, geflissentlich zu überhören. Das dröhnt zumindest aus den Lautsprechern des Flachbildfernsehers, schade nur, dass die Leistung der Zuschauer eine wesentlich bessere als die der Heimmannschaft ist. Barcelona scheint das Spiel nach Belieben zu kontrollieren, da bleibt letztlich nur die fast resignierte Hoffnung auf eine vielleicht aufkommende Überheblichkeit bei den starken Katalanen.
Als schließlich trotz einer guten zweiten Halbzeit der Schalker der Vorhang mit einer 0:1-Niederlage fällt, ist es Gutendorf, der die Anwesenden auf seine ruhige Art aufmuntert. "Wenn die endlich mal treffen, dann ist selbst in Barcelona was drin." Niemand hier, der zu dieser fortgerückten Stunde aus berufenem Munde nicht gern einen solchen Satz hören wollte. Trotz der zugegebenermaßen verdienten Niederlage gegen ein starkes Barcelona.
Am Ende ist er schnell verschwunden, nicht ohne sich noch mit einem Schalker Fan fotografieren zu lassen, der ein Andenken an diesen Abend haben möchte. "Der Rudi ist doch immer noch ein Schalker" ist er überzeugt. Dieser lässt das nur teilweise gelten. "In erster Linie bin ich Koblenzer und hänge an der TuS. Aber Schalke ist für mich noch immer etwas ganz Besonderes. Und mein Herz schlägt auch immer noch blau-weiß!"
Und wenn damals nicht die Reibereien mit dem damaligen S04-Präsidenten Günter "Oskar" Siebert gewesen wären, wer weiß... Gutendorf sieht sich auch heute noch zu Unrecht ausgebootet. Die Geschichte aber will er ein anderes Mal erzählen, er verabschiedet sich "bis zum nächsten Mal!" Vielleicht erlebt er dann das "Wunder von Barcelona" mit, das sensationelle Weiterkommen "meiner Schalker", zumindest ist ihm das an diesem Abend zweimal herausgerutscht.