Der erste Gang war gewiss kein leichter für Dr. Uwe Harttgen. Stillschweigend musste er von links und rechts breitseitige Lobeshymnen über sich ergehen lassen. Von "absoluter Nummer eins" war da die Rede, "nach den Sternen greifen" und davon, dass man sich nach den ersten Gesprächen mit dem neuen Sportdirektor schwer getan hätte mit dem Gedanken, überhaupt noch jemand anderen zu verpflichten. Die erste Übung von Rot-Weiss Essens neuem Sportvorstand bestand also vor allem darin, nicht rot zu werden.
Sollte er seine kommenden Aufgaben ähnlich souverän meistern, hat sein neuer Arbeitgeber wohl tatsächlich einen Glücksgriff getätigt. Es gibt gar kein Vertun: Essen hat einen Profi angeheuert. Weder die vergleichsweise familiäre Medienschar noch die überschwängliche Apostrophierung ließ den neuen Mann aus der Fassung geraten. Ob man nun daran glauben mag, dass Heimatregionen Charakter ausprägen, sei dahingestellt. Dem Klischee der hanseatischen Gelassenheit widersprach der erste Auftritt des gebürtigen Bremers immerhin nicht. Passend dazu befleißigte sich der Neue gleich Altbekannten Vokabulars: Von Seriösität war da die Rede, von Kontinuität aber auch von Tradition und tollen Fans.
Viel mehr als Phrasen bleiben zu Beginn auch gar nicht übrig. Doch die letzten Jahre haben gezeigt, dass die Tugenden, die vermutlich kein Verein dieser Welt als hanebüchenen Schmarrn abtun würde, in Essen seit der Insolvenz mit Leben gefüllt werden. Klammert man die zuletzt schwankenden Leistungen der Ersten Mannschaft aus, kann man dem Rekonvaleszenten RWE nicht nur ein exzellentes Zeugnis ausstellen - es ist eine zielstrebige Entwicklung zu erkennen. Das zeigt gerade diese Personalie.
Auch wenn das an diesem Tag nur zu gerne unter den Tisch gekehrt wurde - natürlich wurde die Installierung des neuen Sportvorstands zu diesem Zeitpunkt erst von der sportlichen Misere vorangetrieben. Gleichwohl spricht es erneut für die mittel- und langfristig orientierte Philosophie, zu der sich auch Harttgen bekannte, dass Michael Welling nicht etwa mit einem Rauswurf, sondern mit einer Verpflichtung reagiert hat und somit konstruktiv statt destruktiv versucht, die sportliche Delle auszubeulen.
Dass die Vita des promovierten Psychologen sich tatsächlich beeindruckend liest, er zudem über die "Street Credibility" eines ehemaligen Bundesliga-Spieler verfügt, aus Bremen noch eine Ahnung von Stallgeruch mitbringt, das alles fügt sich trefflich ins verheißungsvolle Bild, das der neue starke Mann dort abgibt. Auch machte er keinen Hehl daraus, dass ihm schon einige Ideen durch den Kopf gehen, er regelrecht vor Tatendrang sprüht. Arbeit lässt sich eben immer erst im Rückspiegel beurteilen. Lassen wir ihn also arbeiten.
Schon jetzt lässt sich an der Personalie Harttgen aber erneut eine Philosophie ablesen, die dem Verein lange abging. Einer der ehemaligen Präsidenten des Klubs hat bei seiner Antrittsrede einst aus seinem liebsten rot-weissen Gassenhauer zitiert: "...zurück in die erste Liga auf die rot-weisse Art." Von vollmundigen Versprechungen hat sich RWE zwar verabschiedet. Inzwischen gibt es dafür eine neue rot-weisse Art, eine Handschrift, einen Weg. Die Voraussetzungen, dass man Harttgens Verpflichtung im Nachgang darauf als den Meilenstein betrachten wird, der er sein soll, sind außerordentlich gut.