Die legendäre New York Times versucht derzeit, ihren Leserinnen und Lesern einen Begriff aus der modernen deutschen Fußball-Sprache näherzubringen. Da gebe es also diesen jungen Kerl bei Borussia Dortmund, Jamie Gittens - einer, dessen Talente und Fähigkeiten in ganz besonderen Momenten aufblitzen und damit ausschlaggebend für Sieg oder Niederlage sein können. Die berühmteste Zeitung der Welt nennt ihn „The unterschiedsspieler“.
Lars Ricken würde bei dieser Lektüre wohl lächelnd nicken. Der Sport-Geschäftsführer nutzt den Wortstempel nur allzu gerne, wenn er auf Gittens angesprochen wird. „Seine Tore, seine Vorlagen, seine Widerstandsfähigkeit“, zählte Ricken nach dessen Solo-Traumtor gegen Bayern München (1:1) auf, „das ist extrem bemerkenswert.“ Und, natürlich: „Jamie ist ein absoluter Unterschiedsspieler.“
Interessant dabei ist, dass Nuri Sahin in der Beschreibung seines 20 Jahre alten Senkrechtstarters, noch so ein deutsches Fußballwort, gerne ins Englische wechselt. Zu ungestüm war ihm der hochbegabte Linksaußen aus London lange auf die Gegner losgestürmt, daher besprach der BVB-Trainer mit ihm seine Theorie von „risk and reward“, von Risiko und Belohnung. Immer mit Vollgas ins Dribbling, ohne defensiv abzusichern, vermittelte er Gittens, das bringe weder ihn selbst noch die Mannschaft weiter.
Sahin, selbst einst ein blutjunges Supertalent, will, dass sein Spieler im richtigen Moment den Raketenantrieb zündet. „Wann nutze ich das Dribbling? Wann nutze ich meine Schnelligkeit?“, sagte er - am besten wie zuletzt beim aufsehenerregenden Führungstreffer gegen die Bayern.
Da täuschte Gittens an der Mittellinie erst eine Annahme an, ließ den Ball aber durch und drehte sich stattdessen blitzschnell um Konrad Laimer herum, der in seinem Rücken zum Stellen herangeeilt war. Gittens rannte ihm mit Siebenmeilenstiefeln davon, den Schuss am Ende seines Sprints setzte er unhaltbar über Manuel Neuers Schulter hinweg. Wow. Ist das Borussia Dortmunds nächster 100-Millionen-Mann?
Vieles spricht dafür, auch die neue internationale Aufmerksamkeit. Gittens (auf eigenen Wunsch nicht mehr: Bynoe-Gittens) traf viermal in der Bundesliga, aber auch in der Champions League beim FC Brügge (2), bei Real Madrid (1) und bei Dinamo Zagreb (1). Viele Scouts werden in ihren Aufzeichnungen einen dicken Kreis um seinen Namen gezogen haben.
Inzwischen gefällt mir seine Arbeit gegen den Ball sehr, er lässt alles auf dem Platz
Nuri Sahin
Sahin will sich diese Entwicklung nicht selbst zuschreiben. „Die Lorbeeren gehören Jamie - und Sven Bender, der hat sich extrem um ihn gekümmert“, berichtete er vor dem Ligaspiel bei Borussia Mönchengladbach am Samstag (18.30 Uhr/Sky). Der ehemalige Co-Trainer habe Gittens in der Anfangszeit immer wieder Eins-gegen-eins im Training verteidigt und sei danach „ziemlich fertig“ gewesen. Benders frühere Spielweise als Profi vorausgesetzt, war das eine harte Schule.
Noch wichtiger ist Nuri Sahin die Entwicklung in der Defensive. Dribbeln, Ball verlieren, stehenbleiben? Nichts da. „Inzwischen gefällt mir seine Arbeit gegen den Ball sehr, er lässt alles auf dem Platz“, sagte der Trainer. „Außerdem hat er das Herz am rechten Fleck.“ Eben: ein Unterschiedsspieler! Oder noch mehr?
„Wenn er so weitermacht“, sagte zuletzt der Dortmunder Ersatzkapitän Nico Schlotterbeck, „dann ist das ein Wahnsinnsspieler.“ Die New York Times bekommt neue Arbeit.