Nils Petersen wollte feiern. Den Klassenerhalt seines SC Freiburg, seine 15 Saisontreffer, und den Sachverhalt, dass es nun in den Urlaub gehen sollte. So saß der 29-Jährige nach dem letzten Bundesligaspiel mit Kollegen beim Essen und ignorierte sein Handy. Als er wieder zum Gerät griff, erschrak Petersen: drei Anrufe in Abwesenheit. Es war die Nummer von Joachim Löw.
Diese putzige Geschichte, wie er fast seine Nominierung für den vorläufigen WM-Kader der deutschen Nationalelf verpasst hätte, erzählte Petersen am Freitag bei seinem ersten Auftritt als A-Nationalspieler im Südtiroler Trainingslager des DFB. „Ich habe das zunächst nicht mal meinem Vater gesagt, weil ich Angst hatte, dass er so euphorisch wird und es gleich ausposaunt“, so Petersen. Dass der Angreifer aber vom Interesse des Bundestrainers völlig überrascht wurde, ist nicht ganz korrekt. Nach Informationen dieser Zeitung haben sich Löw und Petersen während der Saison in Freiburg getroffen. Petersen erfuhr, dass er auf Löws erweiterter Stürmerliste stand und warum: Weil er ein Mann für besondere Momente ist.
In Petersens Karriere gibt es überraschende Wendungen. Wie er 2011 als Zweitliga-Torschützenkönig bei Energie Cottbus zum FC Bayern wechselte. Wie er da kaum spielte. Und wie er dann nach einem Jahr in München über Bremen beim Nischenklub Freiburg landete. Immer aber wies Petersen eine Fähigkeit nach, die wenige Fußballer besitzen: eine schnelle Auffassungsgabe. Keiner konnte sich rascher an ein laufendes Spiel adaptieren. Mit 20 Toren nach Einwechslungen ist er der erfolgreichste Joker der Bundesliga-Geschichte (vor Alexander Zickler 18 und Robert Lewandowski 16). „Ich schaue mir oft schon auf der Bank an, wo Lücken im Spiel sind, um sie dann zu nutzen, wenn ich reinkomme“, sagte Petersen. Er ist, wie sie beim DFB sagen, „Fußball-intelligent“.
Nun ist in der abgelaufenen Freiburger Saison aus dem Teilzeitarbeiter Petersen ein Vollzeittorjäger geworden (nur ein Jokertor), ohne den die Breisgauer abgestiegen wären. An 62 Prozent aller SC-Treffer (29) war er direkt beteiligt (neben den 15 Treffern gab er auch drei Vorlagen). Das macht ihn wertvoller für seine Mannschaft als Timo Werner für Leipzig (22 Tore, neun Vorlagen) und Mario Gomez für Stuttgart (neun Tore, drei Assists) mit je 46 Prozent. Der junge Werner, der als Angreifer Nummer eins in die WM geht, und der erfahrene Gomez (73 Länderspiele/31 Tore), sind Petersens Konkurrenten um einen Platz in Russland. Aus DFB-Kreisen aber ist zu hören, dass es durchaus denkbar ist, mit drei Angreifern gen Moskau zu reisen. Das wäre dann eine radikale Abkehr von früheren Strategien. Zur WM 2014 nahm Löw nur einen Stürmer mit, Miroslav Klose. Nun könnten es Werner, Gomez und Petersen werden. Das erzählt etwas über die Entwicklung im modernen Fußball, in dem eine Renaissance der klassischen Torjäger zu beobachten ist. Und das erzählt auch etwas über die Entwicklung im Denken Löws, der diese Angreifer stets wenig schätzte: „Das Thema im heutigen Fußball ist: Wie schaffe ich Räume? Und dazu braucht man unterschiedliche Typen“, sagte der 58-Jährige. Werner schafft Tiefe durch Tempo, der brachiale Gomez Platz durch körperliche Präsenz. Und Petersen? „Vielleicht kann ich der Überraschungsmoment sein“, sagte dieser über sich. Der, der reinkommt, wenn es der Moment erfordert.
Beim DFB haben sie sich aufgrund der Sonderbegabung aber auch der Sozialkompetenz für Petersen entschieden. Löws Co-Trainer Marcus Sorg stellte ihm ein sehr gutes Führungszeugnis aus. Sorg flog 2016 mit der deutschen U23 zu den Olympischen Spielen in Rio. Petersen war damals beim Silber-Gewinner ebenso überraschend dabei wie jetzt. Er erzielte dann sechs Treffer in sechs Partien und wurde Torschützenkönig. Das war ein besonderer Moment für ihn.