Als Protagonist des Phantomtors will Stefan Kießling heute lieber nichts mehr sagen zu einer der kuriosesten Szenen der Bundesliga-Geschichte.
Für alle damals Beteiligten und viele Fans ist der 18. Oktober 2013 unvergessen: Vor zehn Jahren erzielte der Leverkusener Stürmer im Sinsheimer Stadion einen Kopfballtreffer durch ein Loch im Außennetz. Hoffenheims Sportchef Alexander Rosen ist heute davon überzeugt, dass das denkwürdige Tor den Fußball nachhaltig verändert hat.
„Die Situation war auf jeden Fall sehr skurril. Aber so bitter diese Niederlage und vor allem der Spielverlauf für uns damals auch war, so sehr hat dieses zweite Phantomtor der Bundesliga-Geschichte den Grundstein für die heutige Torlinientechnik gelegt, die nur rund ein Jahr nach dem vermeintlichen Kießling-Treffer von den Liga-Vertretern beschlossen wurde“, sagte der 44-jährige Rosen der Deutschen Presse-Agentur.
Die Zuschauer bei der Partie TSG 1899 Hoffenheim gegen Bayer Leverkusen (1:2) nahmen Kießlings Aktion unterschiedlich wahr. Manche erlebten es wie Rosen: „Ich war erleichtert, dass der Ball offensichtlich vorbeiging, doch auf einmal fing ein Leverkusener mit etwas Zeitverzögerung an zu jubeln.“ Die Fernsehbilder zeigten dann schnell, auf welch irregulärem Weg der Ball im Tor gelandet war. Doch Videoassistenten, die sich die Bilder noch einmal anschauen und den Unparteiischen auf Fehler hinweisen, gab es damals noch nicht.
Das war nicht so toll für mich, da hat sogar meine WM-Teilnahme gewackelt
Felix Brych
So wurde der Treffer von Schiedsrichter Felix Brych gegeben. Der Münchner musste sich ebenso wie Kießling danach viel öffentliche Schelte anhören. „Das war nicht so toll für mich, da hat sogar meine WM-Teilnahme gewackelt. Der Druck war wochenlang sehr hoch“, erinnerte sich Brych (48). Kießling, so hieß es seiner Zeit, hätte einen Fair-Play-Preis gewinnen können - wenn er auf dem Platz eingeräumt hätte, dass er nur das Außennetz getroffen hat.
Trotz der eindeutigen TV-Aufnahmen gab das Sportgericht des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) dem Einspruch der Hoffenheimer und der Forderung nach einem Wiederholungsspiel nicht statt. Der Vorsitzende Richter Hans E. Lorenz berief sich zehn Tage später auf die Tatsachenentscheidung des Referees, die im FIFA-Reglement vorgegeben ist.
Der sechsmalige Nationalspieler Kießling (39) selbst sagte in dem von großem Medieninteresse begleiteten DFB-Verfahren in Frankfurt/Main aus: „Ich sehe den Ball Richtung Außennetz fliegen, die Sicht war versperrt, ich sehe den Einschlag nicht, aber dass der Ball dann im Tor war.“ Auch Brych hatte „den Ball aus den Augen verloren“, seine Assistenten konnten ihm nicht helfen.
„Ich würde heute genauso urteilen, wenn wir den Sachverhalt so zu prüfen hätten, wie er vor zehn Jahren vorgelegen hat. Durch die Einführung des Videoassistenten kann es solche Irrtümer heute nicht mehr geben“, sagte Lorenz. Kießling, der damals von Bundestrainer Joachim Löw keine Berücksichtigung gefunden hatte, musste sich bei der öffentlichen Verhandlung zudem noch diesen Scherz von Lorenz anhören: „Jetzt haben Sie endlich mal eine Einladung vom DFB bekommen.“
Aber auch die Hoffenheimer mussten sich was anhören. „Wer mit einem defekten Netz in ein Bundesliga-Spiel geht, muss sich nicht wundern, wenn es ein defektes Ergebnis gibt“, so der DFB-Richter. Am Ende hatte das löchrige Tornetz der TSG Hoffenheim sogar einen richtig guten Zweck: Es wurde 2014 versteigert und brachte 100 000 Euro zugunsten der Aktion „Ein Herz für Kinder“.
Mit seinem Phantomtor hat Kießling allerdings kein Alleinstellungsmerkmal. Das erste - allerdings anderer Art - erzielte 1994 Thomas Helmer (58) für den FC Bayern München gegen den 1. FC Nürnberg (2:1). Der Verteidiger hatte den Ball am Tor vorbei bugsiert, doch durch ein Missverständnis zwischen Schiedsrichter Harm Osmers und seinem Assistenten Jörg Jablonski wurde der Treffer anerkannt. Hier gab es allerdings später ein Wiederholungsspiel.