Jeden Tag in den vergangenen vier EM-Wochen fuhr die deutsche Nationalelf an ihr vorbei. Am Wegesrand war die Skulptur ihr stummer Gefährte, der sie bis ins Halbfinale gegen Frankreich an diesem Donnerstag (21 Uhr/ZDF) begleitet hat. Aber wenn man genauer hinschaut, findet sich darin auch ihre eigene, unvergleichliche Erfolgsgeschichte.
Deutschland stellt im Moment den erfolgreichsten Fußballverband der Welt. Das Halbfinale gegen Frankreich ist das sechste in Folge, das ein deutsches Team erreicht hat. Keine andere Nation war in den vergangenen zehn Jahren so konstant in der Weltspitze vertreten. Seit 2006 gab es drei Welt-, drei Europa- und vier Südamerikameisterschaften.
In der Statistik der Halbfinalteilnahmen folgen hinter Deutschland (sechs) Argentinien auf Rang zwei (vier), das aber sogar ein Turnier mehr gespielt hat, sowie Spanien und Portugal (je drei) auf Platz drei. Nach der französischen Ära mit dem WM-Titel 1998 sowie EM-Titel 2000 und der spanischen (drei Titel zwischen 2008 und 2012) hat nun längst – unabhängig vom Ausgang des Halbfinals gegen Frankreich – eine deutsche Ära begonnen. „Wenn man noch weiter zurückgeht, standen wir seit 1996 in elf Turnieren neun Mal unter den letzten Vier und vier Mal davon im Finale. Das ist beeindruckend“, sagt Oliver Bierhoff. Der 48-Jährige war nicht unwesentlich daran beteiligt, als Deutschland 1996 zum bisher letzten Mal den EM-Titel gewinnen konnte. Bierhoff schoss damals das Golden Goal. Seit 2006 ist er Teammanager der DFB-Auswahl und hat die deutsche Ära mitgeprägt. Nun weiß er, dass sie mit einem Sieg gegen Frankreich und einem Triumph in einem möglichen Finale am Sonntag veredelt werden kann.
Deutschland könnte schaffen, was zuvor neben Frankreich und Spanien nur Deutschland selbst geschafft hatte: gleichzeitig Welt- und Europameister zu sein (‘72 und ‘74). „Wir haben einen schweren Weg vor uns“, sagt Bierhoff. „Aber wir sind bereit, ihn zu gehen.“
Die Skulptur vor dem deutschen Teamhotel in Évian weiß davon natürlich nichts. Aber wenn der Bildhauer Raphael Pache sie nicht „Hamadryade“ sondern „Deutschlands Erfolgsstory“ genannt hätte, würde das gut passen. Sie ist eine Eiche, in die der Künstler Ornamente gehauen hat. Oben thront ein Adler. Zwei deutsche Symbole.
Im Stade Camille Fournier, dem Übungsplatz der deutschen Elf, steht Joachim Löw am Mittwoch beim allerletzten Training in Évian zwischen seinem Team – und doch thront er irgendwie. Die neue, deutsche Ära ist die Ära Löw. Seit er beim DFB arbeitet, wurde kein Halbfinale mehr verpasst. Der Bundestrainer ist der Bildhauer der germanischen Periode. Und er sieht sein Werk noch keineswegs vollendet. „Frankreich hatte etwas Schwierigkeiten, ins Turnier zu kommen. Oft haben sie Spiele erst zum Schluss gewonnen, aber dadurch haben sie eine sehr gute Moral bekommen“, sagt Löw. Das Team von Trainer Didier Deschamps hat den 56-Jährigen mit seiner Wucht und Begeisterung zuletzt beeindruckt. Doch Löw sagt auch: „Wir haben Respekt, aber wissen, was wir tun müssen.“
Der Bundestrainer hat die Tour de France stets als eine Etappe auf dem Weg nach Russland zur WM 2018 gesehen. Er will nach Helmut Schön und Vincente del Bosque nicht nur der dritte Trainer sein, der Europa- und Weltmeister wurde. Löw träumt davon, der zweite Trainer zu werden, der seinen WM-Titel verteidigt. Bisher gelang das nur Vittorio Pozzo, der mit Italien 1934 und 1938 Weltmeister wurde.
Nun aber wartet erst einmal Frankreich im Halbfinale der EM. Und die Deutschen, die abonnierten Halbfinalisten, sind durch Verletzungen (Sami Khedira, Mario Gomez) und Sperren (Mats Hummels) arg geschwächt. Und dennoch ist die Gier nach weiteren Erfolgen groß: „Zwei internationale Titel direkt nacheinander zu holen, ist nichts Alltägliches“, sagt Thomas Müller. Das zu erreichen, treibe ihn an. Müller war bei vier der vergangenen sechs Turnieren dabei – ebenso wie Manuel Neuer, Mesut Özil, Jerome Boateng und Toni Kroos. Sie bilden die Hälfte der Startelf gegen Frankreich. Dieses jahrelange Zusammenspiel ist ein Grund für die deutsche Dominanz.
Bei der WM 2014 hatte Bierhoff noch ein übergreifendes Motto entworfen, um nach 24 Jahren endlich wieder Weltmeister zu werden. Es hieß: „Ein guter Anfang braucht Begeisterung, ein gutes Ende Disziplin.“ Bei der EM in Frankreich habe er das Gefühl gehabt, dass es kein neues Motto brauche, sagt Bierhoff. Das Brasilien-Motto scheint sich umgekehrt zu haben: Es war Disziplin nötig, um die wenig schillernde EM-Gruppenphase und das Achtelfinale im aufgeblähten Turniermodus schadlos zu überstehen. Danach gegen Italien und nun vor allem gegen Frankreich braucht es Begeisterung, um gegen ein euphorisiertes französisches Team mit dem Rückenwind von 66 Millionen Franzosen den Weg weiter zu gehen. Denn für die abonnierten Halbfinalisten ist das Halbfinale noch lange nicht genug.