„Gestern, als ich morgens im schwarzen Anzug aus dem Haus ging, hielt ein Auto neben mir. Der Fahrer drehte die Scheibe runter und sagte: Mensch, Herr Welling, wieso tragen Sie Trauer? Wir gewinnen am Donnerstag gegen Verl und dann geht es aufwärts“, erzählt der RWE-Chef.
RWE steht auf einem Abstiegsplatz. Und da ist richtig was los. Täglich werden Welling Trainer, zuletzt ein Weltmeister, und Sportdirektoren angeboten, dazu schicken Fans über alle Kanäle Kündigungsforderungen, die an den Trainer, die Sportliche Leitung oder die Vereinsführung gerichtet sind. Welling bekommt aber auch Zuspruch. „Aufmunternde und aufbauende Worte“, sagt er. „Alle sind besorgt. Beides beweist mir täglich, wie emotional der Verein und sein Umfeld sind.“ Der Boykottaufruf der „Rude Fans“ an die Zuschauer für das heutige Spiel (wir berichteten) ist indes eine neue Eskalationsstufe. „Alles, was ich nicht beeinflussen kann, hat mich nicht zu interessieren“, flüchtet sich RWE-Trainer Jan Siewert in eine Floskel. „Bislang war die Unterstützung einfach überragend“, sagt Welling. „Es ist nachvollziehbar, dass die Fans einen anderen Weg wählen. So viele Möglichkeiten, ihren Unmut zu äußern, haben sie nicht.“ Trotzdem hofft er, dass nicht zu viele draußen bleiben oder eben nach 19,07 Minuten reinkommen. „Wir brauchen ihre Unterstützung.“
Dass sich Welling oder andere Entscheidungsträger vom Boykott beeinflussen lassen, glaubt André Schubert nicht. Der 43-Jährige geht seit 1983 zu RWE und schreibt in seinem Weblog „Catenaccio 07“ Klartext zu kleinen Freuden und großen Spielen an der Hafenstraße. „Vereinspolitik wird nicht dadurch gemacht, dass eine Gruppe etwas boykottiert. Wenn das so wäre, gäbe es viele Marionetten im Verein.“
„Wie soll man sich mit der Mannschaft identifizieren können?“ Verständnis hat Schubert gleichwohl für den Protest. Er sei ja selbst „unglücklich“, aber „ein Boykott bringt nichts“ – nicht mal als Ansage an die Spieler: „Für die sollte das eh keine Rolle spielen – sie werden ja entlohnt, um ihre Leistung in jeder Situation auf dem Platz zu bringen, und das kann auch jeder Fan von ihnen erwarten.“
Dass das Band zwischen denen da unten (auf dem Platz) und denen da oben (auf den Rängen) ohnehin zerschnitten ist, schreibt Michael Jaskolla in seiner viel beachteten Analyse für das Fanzine jawattdenn.de. In der Aufzählung von Fehlern des Vereins kommen auch Trainer Siewert und der sportliche Leiter Andreas Winkler schlecht weg. Ein Punkt: „Sagenhafte 20 (!) Spieler“ haben sie „in den wenigen Monaten seit der Entlassung Faschers verpflichtet, 22 Spieler mussten oder durften gehen. (...) Inzwischen ist es in diesem Verein völlig normal, dass Spieler wieder verschwunden sind, bevor man ihre Namen zu buchstabieren gelernt hat. Wie soll man sich bei einer solchen Fluktuation mit einer Mannschaft identifizieren können?“
„Nur noch leiden und beten“ – und dann „schonungslos aufarbeiten“ Ein anderer RWE-Blogger, Uwe Strootmann findet „den Boykott besser als wüste Beleidigungen“. Dem 49-jährigen Fan und Autor („Im Schatten der Tribüne“) ist vor allem der respektvolle Umgang unter „mündigen Fans“ im Stadion wichtig: „Wer nicht gucken mag, bleibt draußen, hindert aber keinen daran, reinzugehen. Und umgekehrt genauso: Wer gucken mag, toleriert den Boykott.“ Er hofft, dass sich der Frust der Fanszene nicht entlädt: „Durch Drohgebärden rennt kein Spieler besser.“
Strootmann fürchtet, bis zum Saisonende helfe – mit oder ohne Siewert – „nur noch leiden und beten“. Nach dem Klassenerhalt müsse die verkorkste Saison „schonungslos aufgearbeitet“ werden. Noch davor wird das Buch erscheinen, das Strootmann dem RWE und allen Fans geschrieben hat: „111 Gründe, Rot-Weiss Essen zu lieben“. „Tolles Timing“, scherzt er galgenhumorig. Sogar die Saison 2015/16 hat er unter den 111 Gründen untergebracht. Liebe zu RWE erträgt viel.