Von der Brisanz, die diese einstmals so x-beliebige Regionalliga-Partie inzwischen zu einem Kracher gemacht hat, war während des Spiels herzlich wenig zu vernehmen. Sportfreunde Lotte gegen Rot-Weiss Essen war über 90 Minuten eben das, was drauf stand: Ein schnödes, ja über weite Phasen regelrecht biederes Viertliga-Spiel. Richtig emotional wurde es erst nach dem knappen 1:0-Sieg der Hausherren. Natürlich, Lotte ist Meister der Regionalliga West. Doch RWE-Coach Waldemar Wrobel bemerkte später spitz: "Wenn man einen Außenstehenden gefragt hätte, wer hier aufgestiegen ist, hätte der gesagt: Die Mannschaft in Rot."
Es war wohl eine Mischung aus Anerkennung, Trotz und Wir-Gefühl, das die knapp 1.000 mitgereisten Essener Fans dazu inspirierte, ihre Mannschaft nach Spielende geschlagene 45 Minuten zu feiern. Die hatte sich gegen den Meister tapfer gewehrt, musste letztlich aber die Waffen strecken. Alles egal! Wieder und wieder mussten die geschlagenen Gäste aufs Feld zurück. Roberto Guirino, die nächste Nummer auf der rekordverdächtigen Verletzungsliste, konnte nicht mehr laufen und wurde auf den Händen seiner Mitspieler aus der Kabine getragen. Es waren bemerkenswerte Szenen, die sich Wrobel und der Sportliche Leiter Damian Jamro aus der Distanz aber nicht minder beeindruckt anschauten.
Gleichwohl war es natürlich Lottes Anlass. Und Freude, Erleichterung vor allem wohl auch Genugtuung, waren Maik Walpurgis, der jedes einzelne Teammitglied innig an sich drückte, durchaus abzunehmen. Doch es liegt ein dunkler Schatten auf dieser Meisterschaft. Walpurgis war zwar in Gönnerlaune und meinte: "Von mir aus können sich die Jungs jetzt zwei Tage lang wegknallen." Als Startschuss einer rauschenden Party werden seine Spieler das allerdings wohl nicht wahrnehmen. "Ich kann mich ehrlich gesagt erst richtig freuen, wenn wir den Aufstieg feiern sollten", gestand Lottes Mittelfeldmann Tim Gorschlüter. Und so waren Fans und Spieler der Blau-Weißen auch längst verschwunden, als sich die Essener noch immer nicht von ihrer Mannschaft trennen wollten.
Stimmungsvoll ging es auch bei der anschließenden Pressekonferenz zu. Dort hat es der Tecklenburger gern zünftig: Die Nachbereitung des Spiels ist für jedermann und -frau zugänglich. Mit allem, was eine derart basisdemokratische Öffentlichkeitsarbeit nun mal mit sich bringt. So nutzte eine Handvoll RWE-Fans das Forum dazu, den ungeliebten Gegner vermittels nicht jugendfreier Schmähgesänge zu provozieren und den versammelten Lotteraner Anhängern kollektiv die Gesichtszüge entgleiten zu lassen.
In der Hitze der allgemeinen Erregung sah sich ein örtlicher Pressevertreter gar veranlasst, Wrobel indirekt zu einer Entschuldigung für derart ungeniertes Betragen anzuhalten. Von Imageschaden für den Traditionsverein war da die Rede, von Wettbetrug und überhaupt. Das ganze Programm eben. Allen anderen Worten zum Trotz: Die Nachwehen aus dem Vorjahr sind auch nach der Meisterschaft noch nicht vollständig auskuriert.
Wirklich relevant war jedoch vielmehr die sportliche Wegmarke, die Lotte dank des Treffers von Kevin Freiberger (20.) setzen konnte. Zumindest dahingehend konnten die beiden Trainer sogar Einigkeit erzielen. "Jeder, der sich ein bisschen damit beschäftigt, wird zu der Einsicht kommen, dass so eine Regel nichts mit einem sportlichen Event zu tun hat", meinte der Essener Coach. Es ging um die anstehende Relegation.
Natürlich. Wie aufs Stichwort sekundierte Walpurgis: "Wir spielen eine Rekordsaison mit 83, vielleicht sogar 86 Punkten, RB Leipzig hat nicht ein Spiel verloren und dennoch steigt einer von beiden nicht auf. Diese Regelung bringt nur Verlierer hervor." Gerade die schiere Dominanz, mit der die Roten Bullen ihre Liga anführen, könnte Lotte dabei entgegenkommen, sagt niemand anderes als Wrobel. "Lotte muss jede Woche unter Strom stehen, während RB schon seit Monaten gefühlt nicht mehr am Spielbetrieb teilnimmt. Daher glaube ich, dass die Chancen bei 50 zu 50 liegen. Auch, weil die Geschichte mit dem Gallischen Dorf so nicht stimmt. Lotte hat sehr viele Zweit- und Drittliga-erfahrene Spieler in seinen Reihen."
Ganz ohne Spitze ging's nicht aus. Doch angesichts der Temperatur, auf der diese Spiel nachglühte, klang das geradezu versöhnlich.