„Es hat uns weh getan, im WM-Sommer 2006 nicht dabei gewesen zu sein“, sagt Mithat K. und heizt im verschwitzten Unterhemd die Grillkohle so richtig an, während die Kinder bereits das abendliche EM-Spiel vorwegnehmen. Aber es war anders als sonst: Cristiano Ronaldo, sonst einer der Lieblingsspieler der Kids, will diesmal niemand sein, eher Nihat oder Hamit Altintop. „Wir gewinnen gegen Portugal mit 5:3“, prognostiziert einer der Kleinen. Aber wie man als Erwachsener weiß, und wie es spätestens nach dem 0:2 der Türken gegen Portugal am Samstagabend zur erneuten Gewissheit geworden ist, gehört es zu den unweigerlichen Erfahrungen der Jugend, enttäuscht zu werden.
Das türkische Café „Bizim Conak“ (Unsere Hütte) liegt mitten in der Herner Innenstadt und bietet Spielautomaten, Internet, türkisches Rommé und alle Arten von Kartenspielen. Neben dem großen LCD-Fernseher an der Wand hängen die türkische und die deutsche Fahne. Nicht als gefällige Geste für „andere Gäste“, sondern als Selbstverständnis. „Heute schreien wir für die Türkei, morgen für Deutschland“, sagt Sevim E., der das Café organisiert.
Seine Biographie gleicht der vieler türkischer Familien im Ruhrgebiet. Die Eltern kamen als Gastarbeiter Anfang der 1970er Jahre aus der Provinz Zonguldak am Schwarzen Meer ins Ruhrgebiet. Kohle gab dort wie hier, nur konnte man in Deutschland mehr verdienen. „Sie wollten durch die Arbeit so viel Geld verdienen, bis sie sich in der Türkei ein Haus und einen LKW leisten konnten“, erzählt Sevim E. und lacht dabei. Bis heute leben seine Eltern in Herne, später zogen er und seine vier Geschwister nach.
„Wir leben hier und gehen auch nicht mehr zurück“, konstatiert er ohne jede Rückkehr-Romantik. Zum Spiel gegen Portugal finden sich etwa 70 Männer ein. Alles Türken, erste, zweite und dritte Generation, vielleicht mit deutschem Pass, vielleicht ohne. Es ist eine reine Männerwelt.
Ob es auch Frauen im Café gebe, frage ich einen anderen Gast, den ich vom Fußball aus der heimischen Kreisliga kenne. Voller Unverständnis schaut er mich an. Am Nachbartisch bitte ich um Feuer, und obwohl ein Feuerzeug auf dem Tisch liegt, ernte ich ein brüskes: „Nein!“ Es wäre eine Illusion, zu glauben, die jahrelange Diskriminierungspolitik in diesem Land wäre spurlos an den Menschen vorübergegangen. So ist es nicht, selbst an einem Fußballabend nicht.
Die Atmosphäre im Café erhitzt sich während des Spiels. Gelungene türkische Aktionen werden mit Szenenapplaus begleitet, portugiesische Spielzüge mit abfälligen Gesten kommentiert, geflucht wird in deutsch-türkisch. Bereits zur Halbzeit ist allen klar, dass bereits ein Unentschieden ein glückliches Ergebnis wäre. Die Befürchtungen bestätigen sich durch die portugiesische Führung, die viele „haben kommen sehen“. Das Aufbäumen der „Ay-Yildizlilar“ (Halbmonde) wird euphorisch unterstützt und selbst bei einem Schuss, der meterweit über das portugiesische Tor streicht, zieht sich eine Welle der Emotionen durch die Reihen.
Hände greifen wild gestikulierend in die Luft und können das Pech nicht fassen. Am Ende fällt das 2:0 für Portugal und die Depression in die Gesichter der Männer. Aber trotz allen Mitfieberns kehrt bald auch eine realistische Einschätzung des Spielverlaufs ein. Hart geht man dabei mit der eigenen Mannschaft ins Gericht. „Sie haben gehemmt und mutlos gespielt. Das hat mich enttäuscht, weniger die Niederlage“, analysiert Hakan F. Viele hadern mit Fatih Terim, dem türkischen Trainer, dessen Absetzung sie fordern. Aber diese Mechanismen funktionieren wohl im Fußball immer und überall.
Am Ende des Abends muss ich meine drei Biere nicht bezahlen. „Du bist eingeladen“, sagt Sevim E. entschlossen. Ob er denn Sorgen hätte, frage ich ihn und meine damit das Auftreten der Türken bei der EM, was er allerdings völlig falsch versteht. „Ja“, antwortet er. Irgendwie müssten sie ja ab 1. Juli „den Mist von Rauchverbot“ umsetzen und eine ältere Dame aus der Nachbarschaft würde ständig wegen des Kneipenlärms die Polizei rufen. „Wenn wir heute gewonnen hätten und hätten gejubelt, wäre bestimmt jetzt schon wieder die Polizei da!“
Na ja, das sei zwar blöd, aber durchaus kein Einzelfall, versuche ich mit dem Hintergrund langjähriger eignerer gastronomischer Erfahrungen zu beschwichtigen. „Ja, ja, vielleicht“, erwidert er und legt eine Pause ein. Nach einem kurzen Moment fügt er hinzu: „Aber sagt man zu euch dann auch: ‚Geht doch gefälligst dahin zurück, wo ihr herkommt?’“