Deutschland oder doch die Türkei: Am Donnerstag entscheidet in Nyon die Europäische Fußballunion Uefa, wer die Europameisterschaft 2024 austrägt. Zwei entscheidenden Punkte sprechen gegen eine EM am Bosporus: Im Evaluierungsbericht bemängelte die Uefa am Freitag „die wirtschaftliche Lage“ und vermisste den geforderten „Aktionsplan für Menschenrechte“.
Der Kollaps der türkischen Lira fördert tatsächlich das Elend im Land. Dinge des täglichen Bedarfs, Lebensmittel und Energie, werden für die einfache Bevölkerung fast unbezahlbar. Noch immer sitzen Deutsche „aus politischen Gründen“, wie es heißt, in Gefängnissen. Mehr als 200 000 Türken verloren mit derselben Begründung ihren Arbeitsplatz oder sind in Haft.
„Jemand, der sein Land in ein offenes Gefängnis verwandelt, jemand, der das Land spaltet, ist kein guter Gastgeber“, sagte Grünen-Politiker Cem Özdemir, bevor der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan von der UNO-Vollversammlung in New York zum Staatsbesuch nach Berlin fliegt. „Ich würde es der Türkei und den Fans gönnen, aber dem Regime nicht.“
Alle Uefa-Vorgaben erfüllt?
Die Uefa steckt in der Klemme. Bewerbungen ihrer Mitgliedsverbände sind trotz Bedenken ernstzunehmen. „Wir erwarten eine faire Beurteilung“, verlangte Präsident Erdogan in Istanbul. Über die Vorwürfe behauptet er: „Die Türkei erfüllt alle notwendigen Voraussetzungen für eine erfolgreiche Austragung.“
Vor seinem Abflug in die USA kündigte Erdogan am Flughafen öffentlich eine Entspannungspolitik gegenüber Deutschland an. Im Gespräch mit dieser Zeitung ging Erdogan auf die EM-Kampagne sowie das umstrittene Foto mit Mesut Özil vor der WM 2018 in Russland ein.
Mit Blick auf den Evaluierungsbericht: „Die Gerüchte bezüglich der wirtschaftlichen Lage der Türkei entsprechen nicht der Wahrheit“, sagte Erdogan. „Die bilateralen Beziehungen zu den USA und der damit verbundene Wechselkurs spiegeln die eigentliche wirtschaftliche Lage, die Kraft und das Potenzial der Türkei in keinster Weise wider.“
Die Konkurrenz aus Deutschland misst den Worten wenig Bedeutung bei. „Wir haben natürlich darauf aufmerksam gemacht, dass unsere Mitbewerber aus der Türkei so ziemlich alles garantieren, was nicht niet- und nagelfest ist“, konterte DFB-Präsident Reinhard Grindel im ZDF. In der Tat kündigt Erdogan ein Rekordergebnis von über 800 Millionen Euro für die EM 2024 an.
„Die Türkei ist hinsichtlich des Tourismus bereits ein sehr dynamisches und fruchtbares Land“, so Erdogan. „Es sollte kein Zweifel darin bestehen, dass bei der Europameisterschaft die Stadien überfüllt und die Sponsoren- und Werbeeinnahmen steigen werden.“ Die EM 2024 soll in neun Städten unter dem Motto „Share Together“ (miteinander teilen) ausgetragen werden.
Uefa will 5000 Kilometer Schienen
„In nahezu allen Großstädten haben wir Sportkomplexe, Stadien und Sporthallen mit enormen Kapazitäten aufgebaut, die sogar oft in europäischen Ländern nicht existieren“, erklärte Erdogan. Darum will er keinen Zweifel im Raum stehen lassen: „Sollte die Uefa eine objektive Beurteilung machen, so würde sie diese Tatsache auch sehen können.“ Die Uefa vermisst in ihrem Bericht 5000 Kilometer Schienen in der Türkei. Erdogan dazu: „Wir verfügen über 55 Flughäfen, Schnellzüge, eine gute Verkehrsinfrastruktur und Autobahnen und auch eine gute Mobilität innerhalb der Städte.“ Mehr als 40 Millionen Touristen kämen jedes Jahr von A nach B.
Doch die Tauglichkeit zur Austragung eines Turniers wird im Ausland immer wieder mit Blick auf die Pressefreiheit infrage gestellt. Erdogan behauptete zwar gegenüber dieser Zeitung: „Bei der Pressefreiheit, sozialen Medien und Internetjournalismus ist die Türkei eines der führenden Länder der Welt.“ Aber dagegen steht die Einschätzung von „Reporter ohne Grenzen“. Die Organisation stuft die Türkei bei der Pressefreiheit auf Platz 157 von 180 ein. Dazu lässt sich Erdogan so zitieren: „Es gibt eine freie Presse in der Türkei, denn eine Gesellschaft, die der Welt gegenüber offen ist, kann die Themen ihres Landes und der Menschheit verfolgen, sprechen, partizipieren und schreiben.“
Ausgerechnet Verbandspräsident Yildrim Demirören hat die letzte unabhängige Mediengruppe Dogan Media (u.a. Tageszeitung Hürriyet und CNN Türk) übernommen, wie DPA schreibt, und lässt internationale Fußballstars der ersten türkischen Liga, Samuel Eto’o und Robinho, trommeln. Dreimal scheiterte eine EM-Kampagne schon. „Jetzt sind wir dran!“, sagte Demirören.
Fußball-Leidenschaft als Argument
Den Wunsch formulierte Erdogan so: „Deutschland hat 1974, 1988 und 2006, also mit drei großen Welt- und Europameisterschaften, weltweit Sportfans schöne Veranstaltungen angeboten. Ich denke, dass auch ein fußball-leidenschaftliches Land wie die Türkei, das alle Voraussetzungen für eine Austragung erfüllt, diese Möglichkeit erhalten sollte.“
Das umstrittene Foto mit Mesut Özil vor der WM bedaure er im Übrigen nicht. „Mesut ist jemand, der in London lebt. Warum soll ich ihn nicht treffen, wenn ich schon da bin?“ Er nehme ihm nicht übel, dass er für Deutschland spielt; er mache die Jugend stolz.
Autor: Pit Gottschalk