Verstehen sich nicht gerade Skateboarder oder Surfer gerne als Freigeister, die keinesfalls in Strukturen gepresst werden möchten? Wir haben viele Gespräche mit Vertreten der Skateboarder und der Surfer geführt. Beide verfolgen eine ähnliche Lebenseinstellung und haben vielleicht die Sorge, dass sie bei Olympia in Reihe und Glied antreten sollen. Wir müssen aufpassen, dass man ihre Freiräume nicht einschränkt. Aber am Ende wird sich das fügen. So war es auch bei den Snowboardern, die eine ähnliche Philosophie verfolgen.
Wird sich das Programm so weit öffnen, dass eines Tages auch der Wettkampf mit Computerspielen olympisch wird, der E-Sport? Ein schwieriges Feld. Sie benötigen zunächst eine Organisation, die dahinter steht und sich um Regeln, um Fair Play und um den Anti-Doping-Kampf kümmert. Diese Organisation sehe ich noch nicht. Aber so etwas ließe sich regeln. Ein anderer Punkt ist komplizierter: Spiele, in denen auf Menschen geschossen wird, in denen Autos explodieren oder in denen es um Krieg geht, lassen sich nicht mit der olympischen Idee verbinden. Wenn beim E-Sport existierende Sportarten virtuell betrieben werden, kann das sehr interessant sein und sollte etwas sein, über das wir nachdenken sollten. Denn es kann ein Weg sein, um die Jugendlichen an den Sport im klassischen Sinn heranzubringen. Wenn das virtuelle Spiel einen Jugendlichen dazu ermuntert, am Abend mit den Freunden kicken zu gehen, dann ist alles gut. Dieser zweite Schritt sollte aber unbedingt schon beim ersten Schritt mitgedacht werden.
Haben Sie sich selbst schon einmal an E-Sport herangewagt? Im vergangenen Jahr haben wir eine Tour durch das Silicon Valley gemacht. Wir sind dabei der Frage nachgegangen, ob es aus Sicht der IT- und High-Tech-Industrie in 25 Jahren überhaupt noch Sport geben wird. Dort hat auch E-Sport eine Rolle gespielt. Die Spezialisten haben uns ein Spiel vorgestellt, in dem die Zahl der explodierenden Autos Ausdruck des Erfolgs war. Als sie mir das für das olympische Programm vorgeschlagen haben, ist bei mir der Vorhang gefallen, muss ich gestehen.
Sie sind seit 2013 IOC-Präsident... ... richtig, es ist Halbzeit.
Sie sind schon seit Jahrzehnten im Spitzensport tätig, in unterschiedlichen Funktionen. Welches Erbe will man hinterlassen, wenn man etwas so sehr prägt? Ich glaube, es ist ein bisschen früh und vielleicht nicht ganz fair, wenn man noch mitten im Geschehen steckt, schon ins Museum gestellt zu werden. Ich glaube, mit der Agenda 2020, mit der Reform des Programms, mit der Digitalisierung, mit der Gründung des Olympic Channel und mit dem olympischen Flüchtlingsteam oder mit unserer Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen in vielen Bereichen hat gezeigt, wohin wir wollen.
Warum wir fragen: Vor allem die vergangenen Monate waren geprägt von der Diskussion um Russland und sein Dopingsystem. Fürchten Sie, dass die viele Kritik, die Sie einstecken mussten, am Ende alle Reformen überstrahlen könnte? Ich bekomme diese Diskussion in Deutschland natürlich mit und finde es einfach schade, dass wegen der Einseitigkeit mancher so vieles von dem anderen, was wir tun, überhaupt keine Berücksichtigung findet. Aber in anderen Ländern verhält es sich ganz anders, und das macht es verkraftbar. Die Kritik ist in Deutschland sicher am stärksten. Sie wird in meinem Heimatland von einigen auch mit dem Versuch der persönlichen Diskreditierung betrieben. Auf der anderen Seite erlebe ich es auch in Deutschland, wenn ich mal in der Heimat bin, dass die Leute freundlich auf mich zukommen. Ich habe noch keinen einzigen erlebt, der mir gesagt hätte: Was hast du denn da wieder gemacht? Im Ausland sieht man, wie unsere Reform-Programme ankommen und geschätzt werden. Ganz ehrlich: Wenn ich in Mosambik in das Hospital eines Sportzentrums komme, welches vom IOC unterstützt wird, mir ein kleiner Junge in den Arm gelegt wird, der zwölf Stunden vorher geboren worden ist, dann sind das emotionale Momente, die mir zu Herzen gehen. Da wird deutlich, was die olympische Idee bewirken kann.
Es sind keine neun Monate mehr bis zu den Winterspielen in Pyeongchang. Wird in Südkorea wieder mehr der Sport im Mittelpunkt stehen als weitere Dopingskandale? Ich glaube, dass sich die Gemüter beruhigen. Man sieht schon, dass die Diskussion sachlicher geworden ist. Zwei Kommissionen sind damit beschäftigt, aufzuarbeiten, was bei den Winterspielen in Sotschi 2014 genau passiert ist. Von den Ergebnissen dieser Kommissionen hängen unsere Sanktionen ab.
Werden diese vor Pyeongchang umgesetzt? Ich hoffe es. Mir wäre es am liebsten, dass es noch vor Beginn der Wintersportsaison geschieht, so dass vor den Qualifikationen für die Spiele Klarheit herrscht.
Müsste Ihre Stimme manchmal lauter sein, wenn es um so essenzielle Fragen wie russisches Staats-Doping geht? Es ist sehr einfach, an solchen Punkten laut zu sein und Symbolpolitik zu betreiben. Aber davon bin ich kein Anhänger. Es geht auch um die Frage der langfristigen Betrachtung. Ich trage in meiner Funktion nicht nur für den Augenblick eine Verantwortung, sondern für viele Jahre. Insbesondere die Athleten, aber auch die Verbände und Regierungen müssen sich darauf verlassen können, dass wir unseren Prinzipien treu bleiben und nicht einer augenblicklichen politischen Zeitgeiststimmung nachgeben. Beim Thema Doping geht es um Gerechtigkeit und nicht um politische Symbolentscheidungen.