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Interview: Ralf Rangnik über Taktik, Fußballprofessoren und Schalke gegen Barcelona
"Es gibt riesigen Nachholbedarf"

Interview: Ralf Rangnik über Taktik, Fußballprofessoren und Schalke gegen Barcelona
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Als er vor zehn Jahren im »Aktuellen Sportstudio« die Taktik eines Spiels analysierte, wetterten die Traditionalisten. Heute gilt Ralf Rangnick als Vordenker. Wir sprachen mit ihm über alte Helden, den Fußball von morgen und Louis de Funès.

Haben Sie eigentlich die Sorge, dass die Spieler, wenn sie im Profibereich mit den ausgefeilten Taktiken und Systeme ihrer Trainer konfrontiert werden, irgendwann kapitulieren?

Das hängt natürlich ganz entschieden davon ab, wie der Trainer sein Wissen vermittelt. Ich vergleiche den Trainerjob immer mit dem eines Dirigenten oder eines Regisseurs. Im Theater oder am Film-Set findet man solche, deren Arbeit man sofort erkennt, und auch solche, bei denen die Spuren der Arbeit eher unsichtbar bleiben. Einen Fellini-Film erkennt jeder Zuschauer an der spezifischen Handschrift – auch wenn die Schauspieler improvisieren und ihren Charakter selbst formen, übertragen sie seine Ideen, und denken sie im besten Fall noch weiter.

Bleiben wir in der Theatermetaphorik: Ein Trainer braucht also einen Protagonisten, einen verlängerten Arm, der die Ideen hauptsächlich trägt und gewissermaßen übersetzt?

Im Idealfall gibt es nicht nur einen. In meiner aktuellen Mannschaft habe ich drei, vier Spieler, mit denen ich regelmäßig und intensiv kommuniziere. Doch eigentlich ist es in einer Fußballmannschaft wie in einem Orchester: Jeder muss Verantwortung übernehmen. Und wenn nur einer falsch spielt, dann klingt das Ganze nicht mehr gut.

Was sagen Sie eigentlich zu der pessimistischen These, dass ein Spieler heute nur funktionieren muss?

Es kommt immer darauf an, wie man mit den Spielern umgeht. Wenn man sie nur als Befehlsempfänger sieht, wenn ich sie rund um die Uhr überwache, ihnen einzig die Rolle zuschreibe, reibungslos zu funktionieren, wie es oft in der Vergangenheit gemacht wurde, dann arbeiten sie auch wie Maschinen. Doch meine Idee einer guten Führung basiert auf Vertrauen und Kooperation. Ich kaue meinen Spielern nicht nur etwas vor, ich versuche sie mit ins Boot zu holen, ich lasse sie Teil haben an Entscheidungsprozessen. Nur wenn sie das Gefühl haben, auch Freiheiten zu genießen, auch bestimmte Charakterzüge und Stärken ausleben können, werden sie Fußball mit Leib und Seele spielen.

Wie gehen Sie mit Spielern um, die sich zu frei bewegen, Spielern, die den genialen Pass spielen können, sich einem Taktikgefüge aber per se verweigern?

Ich glaube nicht, dass es diese Spieler gibt. Denn sobald sich Erfolg einstellt, dann merken die Spieler, dass dieser auch auf bestimmten taktischen Grundüberlegungen beruht. In unserer aktuellen Mannschaft gibt es Spieler unterschiedlichster Herkunft, die, als sie nach Hoffenheim wechselten, nicht mal Deutsch sprachen. Doch sie haben unsere Spielweise verinnerlicht, sich in unser Gefüge eingepasst und gemerkt, dass es Erfolg verspricht. Und im Erfolg macht Fußball richtig viel Spaß.

Ist dieses Gefüge nicht per se instabil? Und wird es dadurch nicht unglaublich schwer, eine Taktikidee für alle gleichermaßen greifbar zu machen?

Das ist eine Kunst, das stimmt. Eine Kunst, die der Trainer von heute und von morgen aber beherrschen muss. Fußball ist vermutlich die Sportart mit der größten Gruppenheterogenität. Und diese Heterogenität beruht nicht nur auf den unterschiedlichen Sprachen, sondern auch auf ihrer sozialen Herkunft, ihrer Kultur, ihrer Bildung. Da gibt es den Studierten, den Spieler, der die Schule nach der vierten Klasse abgebrochen hat, den Spieler, der nicht lesen und schreiben kann, den Spieler, der aus gutbürgerlichem Haus kommt, und den, der aus zerrütteten Familienverhältnissen stammt. So muss man mit der Mannschaft eine Sprache, einen Sprach-Code entwickeln, um erfolgreich zusammenspielen zu können. Man darf Taktiklehre daher niemals als reinen Wissenstransfer betrachten, sondern muss diese nachhaltig und einfühlsam zugleich in die Köpfe und Herzen der Spieler transportieren.

Würden Sie sich demnach überhaupt als rationalen Menschen bezeichnen?

Ich würde mich als sehr emotionalen Menschen beschreiben.

Ein alter Schulfreund sagte allerdings einmal über Sie: »Ralf Rangnick ist ein absoluter Perfektionist: Alles aufs I-Tüpfelchen genau geplant, nichts dem Zufall überlassen.« Kann man den Fußball überhaupt so rational planen? Und kann man das im Fußball: Den Zufall ausschließen?

Ausschließen kann man ihn nicht. Doch das Ziel eines jeden Trainers – egal in welcher Liga – ist es, den Faktor Zufall zu minimieren. Dazu gehört die präzise Spiel- und Trainingsanalyse genauso wie die tägliche Schaffung und Überprüfung idealer Trainingsbedingungen.

Momentan wird über die Anwesenheit von Fans beim Training diskutiert. Einige Vereine würden in Zukunft liebend gerne auf die Kiebitze verzichten.

Ich auch. Das ist im Grunde eine sehr groteske Diskussion, denn bei Theater- oder Orchesterproben würde auch niemand auf die Idee kommen, Öffentlichkeit zuzulassen und den Kritikern erlauben, vor der Premiere schon das Stück zu zerlegen und die Leistungen der Protagonisten in Frage zu stellen.

In England ist das anders.

In Italien oder England können es die Leute gar nicht glauben, was wir für Zustände haben. Niemand kann verstehen, dass es uns nicht möglich ist, unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu trainieren. Arsène Wenger brachte es kürzlich auf den Punkt: »Das Trainingsgelände ist für den Trainer und die Spieler. Das Stadion für die Fans!«

Ist der Trainer demnach heute in Deutschland immer noch das viel zitierte schwächste Glied?

Ja. In Deutschland hat der Trainerberuf keinen hohen Stellenwert, weder in den Medien noch in der Gesellschaft. In Italien etwa ist das ganz anders, dort ist der Trainer der »Mister« – ganz egal, ob du dich mit dem Pizzabäcker unterhältst oder mit den Spielern am Trainingsgelände. Kommst du nach England, ist der Trainer der »Boss«. In Deutschland haben wir ein Imageproblem des Trainers. Inwiefern das jetzt gerechtfertigt ist, und es vielleicht sogar ein Qualitätsproblem gibt, ist im Grunde nebensächlich. Problematisch ist die offensichtliche Respektlosigkeit gegenüber unserem Berufsstand vor allem bei Misserfolg.

Wie kann man das verhindern?

Dazu gehört auf jeden Fall auch ein gut funktionierender Trainerstab und vor allem ein professionelles Führungsteam, das den Trainer in prekären Situationen schützt und unterstützt. Es ist kein Wunder, dass ein Verein wie Werder Bremen so erfolgreich Fußball spielt. Dort setzt man seit Jahrzehnten auf Kontinuität und lässt sich von externen Störmanövern nicht verrückt machen. Diese uneitle und professionelle Unaufgeregtheit hilft in Krisenzeiten, schnell wieder die Kurve zu kriegen.

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