Bei wem sind Sie eigentlich in die Lehre gegangen?
Ich bin eher Autodidakt. Ich habe zwar Sportwissenschaften studiert, doch das meiste habe ich mir in meiner Freizeit angeeignet. Was mir schon früh bewusst war: Ein Trainer muss – will er sich weiterentwickeln – über den Tellerrand schauen. Und so nahm ich bei Trainingseinheiten von Dynamo Kiew oder Arsenal London teil und versuchte, mich vom italienischen Fußball inspirieren zu lassen. Schon als Spieler wurde mir klar, dass die starren Positionen flexibler interpretiert werden müssen.
Auf welcher Position spielten Sie?
Ich habe damals auf der »Sechs« gespielt, doch nicht so offensiv und Spiel eröffnend wie heute etwa ein Thorsten Frings. Ich war ein Sonderbewacher der alten Schule. Mit aktivem Fußballspielen hatte das oft wenig zu tun, auch wenn ich meine Arbeit für den Trainer zufrieden stellend gelöst habe. Ich hatte des öfteren nicht wirklich Spaß an diesem Spiel, und der Trainer in mir spürte damals schon, dass es das nicht sein kann.
Gab es für Sie damals ein Trainer-Idol?
Es gab Vereine, für die ich mich sehr interessiert habe, Dynamo Kiew mit Valeri Lobanovsky etwa. Dann kam die Zeit von Arrigo Sacchi beim AC Milan. Ich habe mir fast jedes Spiel von Milan angeschaut. Aber ich blickte nicht nur auf die großen Mannschaften. Als ich 1991 in Südtirol Urlaub machte, fand ich heraus, dass die Mannschaft von US Foggia, die gerade in die Serie A aufgestiegen war, ihr Trainingslager in einem nahe gelegenen Bergdorf abhielt. Foggia trainierte damals unter dem Tschechen Zdenek Zeman, der ebenfalls ein Vorreiter des Pressings und kompletter Raumdeckung auf dem Platz war. Ich bin jeden Nachmittag – sehr zum Leidwesen meiner Frau – in dieses Bergdorf hochgefahren, um mir die Trainingseinheiten anzuschauen.
Fehlten in Deutschland Anfang in den 80er und 90er Jahren solch visionäre Vorreiter, also Trainer, die nachhaltig Dinge veränderten?
Auf jeden Fall. Der Fall Sacchi belegt das: Der war eigentlich Schuhverkäufer, zugleich Spieler in der fünften oder sechsten Liga. Sacchi ist vielleicht 1,70 Meter groß und sah damals aus wie Louis de Funès. Doch Sacchi prägte eine ganze Ära. Ein Trainer mit solchen Visionen, wie Sacchi sie hatte, hätte in Deutschland nie die Chance bekommen, einen Verein zu trainieren, und, hätte er sie durch einen Zufall doch bekommen, wäre er nach Misserfolg prompt wieder entlassen worden. Die deutschen Vereine waren damals wie heute viel zu ungeduldig. Was glauben Sie eigentlich, wie viele Profis, die unter Sacchi gespielt haben, heute auch Trainer sind?
Wenn Sie so fragen: Fünf bis zehn?
Ich würde sogar sagen mehr. Diese Spieler wurden unglaublich stark von Sacchi geprägt. Unter Sacchi zu trainieren, das war damals das Größte für einen Spieler, das war im Grunde die beste Ausbildung für zukünftige Trainer, die man genießen konnte. Wer hat denn in Deutschland eine Ära geprägt? Vielleicht Ottmar Hitzfeld oder auch Hennes Weisweiler. Doch niemand tat es so nachhaltig und so stark wie Sacchi in Italien, wie Lobanovsky in der Sowjetunion oder auch Rinus Michels in den Niederlanden.
Es heißt, Sacchi habe sein eigenes Fußballsystem an jenem Tag hinterfragt, als er mit Italien gegen Lobanovskys »Sbornaja« im Vorrundenspiel der EM 1988 verlor. Haben Sie auch ein Spiel, das Ihr Denken ähnlich veränderte?
Ja. Es war allerdings ein weniger wichtiges Spiel: Wir spielten 1984 mit Viktoria Backnang gegen Dynamo Kiew, die in der Nähe ihr Trainingslager aufgeschlagen hatten. Ich war Spielertrainer in Backnang und stand mit auf dem Feld. Nach etwa zehn Minuten hielt ich inne. Ich war vollkommen perplex und habe die Spieler durchgezählt. Ich zählte elf Viktoria-Spieler und elf Kiewer. Doch die spielten so starkes Pressing und nutzten so geschickt die Weite des Feldes, dass ich annahm, sie hätten mindestens zwei Spieler mehr auf dem Platz.
Es war Ihr persönliches Schlüsselspiel?
Genau. Wir hatten ja auch schon Spiele gegen Proficlubs aus Deutschland gemacht. Doch ich wusste bei dem Spiel gegen Dynamo Kiew von der ersten Minute an: Das hier ist irgendetwas ganz anders. Ich bin gleich am nächsten Tag ins Trainingslager der Kiewer Mannschaft gefahren, und mir war sofort klar, dass wir hier über eine ganz andere Art des Fußballs reden, als wir es bis dahin in Deutschland gekannt haben.
Sie waren zu der Zeit auch als Jugendtrainer tätig. Auf was haben Sie dabei geachtet?
Als ganz junger Trainer – ich war 24 Jahre alt – trainierte ich die E-Jugend in Ulm. In den Schulferien haben wir zweimal am Tag trainiert und gemeinsam Freistoß- oder Eckstoßvarianten entwickelt. Ich erinnere mich noch heute, mit welchem Eifer, mit welcher Freude diese zehn- oder elfjährigen Jungs bei der Sache waren. Schon damals gab es aber etliche Kritiker, die sagten, dass man solch junge Steppkes nicht in ein Schema pressen kann, dass man sie so konkrete Dinge nicht üben lassen sollte, weil man ihnen dadurch die Spielfreude nimmt. Ich aber behaupte: Wenn du Sachen nicht in Rollenspielen einstudierst, dann funktioniert es auch im Spiel nicht. Und wenn es im Spiel nicht funktioniert, dann macht es den Jungs auch keinen Spaß.
Ist das in England oder Italien anders?
Im europäischen Ausland etwa wird Kindern und Jugendlichen schon früh – und zwar kindgerecht – vermittelt, was Raumdeckung ist. Das wird heute in Ansätzen auch in Kinder- und Jugendmannschaften der Bundesligisten gemacht. Bei kleineren Vereinen, die in den unteren Klassen spielen, ist das aber anders. Dort verfügen die Trainer oft nicht über das Wissen, wie man kindgerecht ballorientierte Raumdeckung vermitteln kann.
Sie wünschen sich also für die Zukunft eine frühe Heranführung an Taktik und Systeme?
Absolut. Ich gebe Ihnen ein anderes Beispiel: Als meine Söhne mit dem Fußball begannen, habe ich Spiele beobachtet, in denen die Trainer nur grob skizzierten, auf welcher Position die Kinder spielen sollten. Da hieß es etwa: »Ihr spielt hinten!« Ein paar smarte Jungs fragten dann nach: »Trainer, wo ist denn hinten, darf ich auch nach vorne?« Doch zumeist bewegten sich die Jungs nicht von der Stelle, sie überschritten nach solchen Vorgaben nicht mehr die Mittellinie. Wenn ich kleinen Kindern solche Anweisungen gebe, brauche ich mich nicht zu wundern, wenn sie im Leistungsbereich plötzlich an ihre Grenzen stoßen, weil sie überhaupt nicht verstehen, dass sich ein Stürmer auch im Spiel nach hinten beteiligen muss und sich der Verteidiger in die Offensive einschalten soll. Im Grunde sollte man die Kinder also genau das tun lassen, was sie tun möchten: Nämlich dorthin laufen lassen, wo der Ball ist. So lernt auch der defensive Spieler, offensiv zu agieren und umgekehrt.