Rudi Gutendorf, herzlich Willkommen im Ruhrgebiet. Erkennen Sie es noch wieder?
Sicher. Ich bin vorhin an der Glückauf-Kampfbahn vorbeigefahren, da hat mein Herz schneller geschlagen. Nun, ich war lange weg, habe alle fünf Erdteile gesehen und zuletzt in Ruanda und Samoa gearbeitet, aber - und das ist kein fishing for compliments – am wohlsten habe ich mich hier im Ruhrgebiet gefühlt. Nicht nur das die Menschen hier fußballbegeistert sind, sie haben mir gefallen in ihrer Lebensart. Allein diese Sprache. Ich hatte mal einen Masseur, den wir nach einem verlorenen Spiel vergessen hatten, mit dem Mannschaftsbus mitzunehmen. Zwei Stunden später kam er zu mir und sagte: „Hömma, Trainer, da stehe ich nun unter die Tribüne mit den ganzen Köffers!“ Ehrliche Kerle, auch im Fußball. Wenn ich ins Ruhrgebiet komme, ist das für mich alles „a sentimental journey“. Mein Herz hängt hier dran. Ich freue mich für den MSV, dass er wahrscheinlich wieder aufsteigen wird. Die Schalker sind ja zu doof gewesen, diese Gottesgnade auszunutzen, um mal oben dran zu bleiben. Aber man sagt das alles so, dabei weiß ich selbst, was der Ball für ein Sauhund sein kann!
Aber die Region hat sich im Gegensatz zu früher, als Sie im ersten Bundesligajahr 1963/64 den Meidericher SV trainierten, doch radikal verändert, oder?
Ganz entscheidend. Als ich in Meiderich angefangen habe, zog von den dampfenden Schlackenbergen noch ein beißender Geruch durch den Stadtteil, und es war so schlechte Luft, dass wir uns mit Leukoplast Mullbinden unter die Nase klebten. Nach dem Training waren die ganz schwarz von dem Kohlenstaub. Wenn ich an die Duschen denke! Es war geradezu trostlos. Wir hatten als Bundesligist zwei Duschen und da tröpfelte das Wasser nur ganz spärlich raus. Da sind dann solche Stars wie „Cassius“ Manglitz, „Eia“ Krämer und „Pitter“ Danzberg hin- und hergehüpft, um noch einen Wasserstrahl abzubekommen.
Trotzdem feierten Sie mit dem MSV spektakuläre Erfolge...
Meiderich galt als sicherer Abstiegskandidat und um ein Haar wären wir im ersten Bundesligajahr Deutscher Meister geworden. Aber selbst die Vizemeisterschaft war eine Sensation. Bis auf Helmut Rahn, Heinz Höher und Manfred Manglitz kamen alle aus Meiderich; Jungens aus’m Pott, die knüppeln konnten und mit Herzblut für ihren Verein spielten. Fast die ganze Mannschaft kam aus der eigenen A-Jugend. Dieses warme Gefühl, das sind unsere, die da spielen, das ist heute nicht mehr. Die Identifikation mit Spielern, die aus dem eigenen Ort kommen, das hat viel mit einer leider längst vergangenen Fußball-Romantik zu tun.
Suchen Sie diesen Moment des Authentischen, wenn Sie in exotischen Ländern trainieren?
Dort findet man das natürlich, aber dafür können sie halt kein Fußball spielen. Wenn da mal einer über das Mittelmaß hinausgeht, wird er ganz schnell weggekauft. Meine Arbeit läuft dort auf einer anderen Ebene ab. Wenn ich denen im Training erkläre, was ein „overlapping fullback“ ist, den ich beim HSV mit Manni Kaltz perfektioniert habe, dass der als rechter Verteidiger praktisch wie ein Rechtsaußen gespielt hat, das kennen die überhaupt nicht. Und wenn solch eine Aktion zum Tor führt, dass ein nach vorne stürmender Verteidiger geflankt hat und einer im Strafraum den Ball reinköpft, dann ist man da ein Heiliger. Wenn man den Fußballern dort in die Augen sieht, erkennt man noch das Leuchten, das es hier in der Bundesliga, diesem „Jahrmarkt der Eitelkeiten“, längst nicht mehr gibt.
Sie haben mit so unterschiedlichen Charakteren wie Helmut Rahn und Stan Libuda gearbeitet. Worin lagen die Unterschiede?
Helmut: kein Kind von Traurigkeit, manchmal dreimal nicht zum Training gekommen. Ich habe mir schließlich mit ihm ein Pferd gekauft, fifty-fifty, und bin mit ihm jeden Morgen nach Dinslaken auf die Trabrennbahn gefahren, nur um ihn später beim Training zu haben. Nachher ist er einer meiner besten Spieler gewesen. Er hat ein Menge Tore gemacht und war als Person für die Mannschaft ganz wichtig. Libuda ganz anders, sensibel, schüchtern. Er hatte immer Angst, wenn wir ein Auswärtsspiel hatten, dass seine Frau ‚links’ ging. Ich habe ihn zum Mannschaftskapitän gemacht und der Presse so oft diktiert, „der Stan gehört in die Nationalmannschaft“, dass der Helmut Schön gar nicht mehr anders konnte. Solche außerordentlichen Spielerpersönlichkeiten forderten einen Trainer eben auch, Psychologe zu sein. Das war Arbeit, jeden Tag. Was haben Sie gedacht, als Sie gesehen haben, wie „einsam“ diese beiden Sterne des Ruhrgebietsfußballs schließlich gestorben sind?
Es macht mich noch heute traurig. Vor allem bei Libuda. Ich habe ihn im kleinen, verrauchten Tabakding von Kuzorra besucht. Mir sind die Tränen gekommen. Die Schalker haben nichts gemacht für den „Stan“. Die erwidern immer: „Der wollte ja nicht!“ - Das stimmt, Libuda war ein Verneiner, aber wenn man jemanden wert schätzt, dann muss man eben energischer sein. „Komm, mach den Jugendtrainer“ oder so etwas. Die Bayern haben sich um Gerd Müller wirklich bemüht, als er alkoholabhängig war und eine Lebenskrise hatte. Franz Beckenbauer ist selbst dafür aufgestanden. Ich bleibe dabei: Schalke hat zu wenig gemacht für den Menschen Libuda.
Schalke 04 war, wie Sie selbst geschrieben haben, die Offerte ihres Lebens. Wie kamen Sie überhaupt in die Stadt der tausend Feuer?
In Schalke hatten sie den Günter Broker rausgeschmissen, und ich war zu der Zeit auf den Bermudas. Dort habe ich am Strand eine ‚Bild am Sonntag’ gefunden, ganz sandig obendrauf von den Füßen. Da stand in dicken Lettern: „Schalke sucht Gutendorf!“ Ich dachte: „Um Gottes Willen, ist das denn wahr?“ Schon mein Vater hatte für die Knappen geschwärmt, und Schalke war ein Jugendtraum von mir. Ich habe angerufen und kriegte den Kassierer Altenhofen. „Kommen Sie! Wir warten auf Sie!“ - Ich fragte: „Ist das sicher?“ - „Ja, ja.“ Ich habe das nächste Flugzeug genommen und bin mit meinem großen amerikanischen ‚Thunderbird’ und meiner schicken Frau in die Glückauf-Kampfbahn eingezogen. Aber ich habe auch ein bisschen gezweifelt, hoffentlich geht das gut. Beim ersten Training appellierte ich an die Ehre der Spieler: „Hört mal, Schalke ist an letzter Stelle! Schämt ihr euch nicht? Ich bin nicht daran schuld, sondern ihr. Wir müssen jetzt etwas besonderes machen. Morgen früh, es war mitten im Winter und in Gelsenkirchen wurde es damals grundsätzlich erst um neun Uhr hell, seid ihr alle um sechs Uhr hier. Wir laufen an den Zechentoren vorbei, damit die Arbeiter sehen, dass ihr auch malochen könnt. Meine Frau meinte, ich sei verrückt und würde alleine da stehen. Aber alle Spieler kamen, und ich hatte genau ausgerechnet, wann die Kumpels einfahren und einen Wegeplan gemacht, damit die uns auch alle beim Schichtwechsel sehen konnten. Sogar die Presse und das Fernsehen berichteten über diese Aktion.
Die hatte ich natürlich auch vorher angerufen, und es waren drei Fernsehteams da. Ich hatte damals schon kapiert, man braucht die Medien, und die Medien brauchen uns. Außerdem ist es mein Arbeitsprinzip: Was nützt es, wenn man Gutes tut, und niemand erfährt davon!
Das Gespräch führte Ralf Piorr