Thomas Heermann, meist „Tom“ gerufen, verbringt dieses Weihnachtsfest nicht zu Hause. Der 48-Jährige ist in einer Rehaklinik in Ostwestfalen. Vielleicht findet er dort jemanden, der mit ihm über Fußball spricht. Er spricht ziemlich gerne über Fußball.
Wie er 1993 Rasensport Wanne mit vier Toren im Aufstiegsspiel in die Kreisliga A schoss zum Beispiel. Oder 2004 als er als einer von 800 Anhängern des SV Wanne 11 den Bezirksligaaufstieg auf dem Platz der SG 70 feierte. Oder auch über die Spiele dieses SV 11, den er seit inzwischen zwei Monaten in der Landesliga trainiert. Er spricht nicht nur gerne darüber, er denkt auch viel darüber nach. „Vor dem Spiel gegen Mühlhausen war ich richtig aufgeregt“, sagt er, „ich hatte das ganze Wochenende einfach nur einen Ball im Kopf, konnte mich kaum auf etwas anderes konzentrieren.“
Das war nicht immer so. Knappe acht Jahre seines Lebens wollte er von Fußball gar nichts wissen. Heermann ist in der Rehaklinik, weil er 1996 einen Schlaganfall hatte. Seitdem ist er halbseitig gelähmt. Man erkennt das, wenn er geht, oder an seinen Mundwinkeln. Auch die eine Hand funktioniere nicht so richtig, sagt er.
„Da dachte ich: Scheiße.“
Als er jünger war, so um die 20, war Fußball für Heermann zweitrangig. Er boxte für Unser Fritz, stand kurz vor der Westfalenmeisterschaft. Dass sein Schlaganfall eine Spätfolge vom Boxen gewesen sein könnte, ist nicht ganz auszuschließen. Auslöser war aber eine Lebensmittelvergiftung, mit tagelangen Magen-Darm-Problemen konnte er keine Flüssigkeit zu sich nehmen, das Blut verdickte.
Das war im November 1996, Heermann stürmte seit wenigen Monaten für den SV Wanne 11. „Ich war zwei Tage krank, habe aber am Sonntag noch Fußball gespielt. Am Montag wurde mir Blut abgenommen“, erinnert sich Heermann. Am Dienstag kippte er zu Hause um.
„Ich dachte, ich wäre einfach dehydriert und unterzuckert. Ich lag eine Stunde auf dem Boden. Ich habe es irgendwie geschafft, zum Kühlschrank zu robben, da stand noch ein Malzbier. Ich habe geschafft, es mit einer Hand an einer Kante zu öffnen, zu trinken. Als es auf einer Seite aus meinem Mundwinkel lief, dachte ich: Scheiße.“
Er kam mit schweren Lähmungserscheinungen ins Krankenhaus. Die Ärzte gingen zunächst von einem Tumor aus, irgendwann stand aber die Diagnose: Schlaganfall. „Eine Woche später kamen meine Mannschaftskameraden zu mir auf die Intensivstation. Einige von ihnen sind heute im Elfer-Vorstand, auch mein damaliger Sturmpartner Olaf Liersch. Ich war der Wuchtige von uns beiden, er der Abgezockte, der immer wusste, wann er zu fallen hat. Wir waren ein tolles Duo.“ Ein kurzer Fußball-Exkurs, dann wird Heermann wieder ernst: „An ihren Blicken habe ich gesehen, wie es um mich stand.“
Zurück im Leben
„In zwei, drei Monaten stehe ich wieder auf dem Platz“, habe er den Mannschaftskameraden im Krankenhaus angekündigt. Stand er natürlich nicht. Heermann, damals 29 Jahre alt, saß vorerst im Rollstuhl.
„Das war das Schlimmste, ich hatte immer Sport gemacht, geboxt oder Fußball gespielt, das brauchte ich. Und plötzlich konnte ich mich nicht mehr bewegen. Nur in meinen Träumen stand ich auf dem Platz, konnte ich noch Fußball spielen. Das ist bis heute so geblieben. Es ging mir schlecht, ich wusste nicht weiter.“ Dann die Erinnerung: Tom, du wirst Vater. Im Schock war ihm das aus dem Sinn gekommen. „Da wusste ich: Ich muss mich irgendwie durchbeißen.“
Er musste wieder lernen zu gehen, in einer monatelangen Reha. Irgendwann war es so weit: „Meine Frau war für zwei Wochen unterwegs. Ich habe ihr beim Abschied versprochen: Wenn wir uns wiedersehen, laufe ich dir entgegen. Das habe ich geschafft.“
Heermann kehrte langsam zurück ins Leben, war nun Vater, fing wieder an, bei Thyssen zu arbeiten, übernahm dort die stellvertretende Schwerbehindertenvertretung. „Ich will Leuten, die ähnliches erlebt haben, die körperliche und psychische Probleme haben, meine Erfahrungen weitergeben. Man kann alles schaffen.“ Er arbeitet heute wieder in der Werkstatt als Schlosser, ist im erweiterten Betriebsrat.
Zurück auf den Platz
Nur das Thema Fußball hatte sich nach dem Schlaganfall erledigt. „Das war einfach zu schmerzhaft zu mich“, erinnert sich Heermann „ich habe in der Zeitung über die Spiele gelesen, aber auf den Platz bin ich nicht mehr gegangen. Ich habe das nicht ertragen, war verkrampft, fühlte mich beobachtet.“
Erst sein Sohn brachte ihn wieder in die Nähe eines Fußballplatzes, als Heermann den Vierjährigen beim SV Wanne 11 anmeldete.
2004 wurde Heermann gefragt, ob er die Mannschaft seines Sohns trainieren wolle. Er wollte. Im gleichen Sommer sah er erstmals wieder ein Spiel der ersten Mannschaft des SV 11: Wanne gegen Yeni Genclikspor, Aufstiegsspiel in die Bezirksliga. Heermann: „Wir waren 800 Elfer an der Vödestraße, und viele kannte ich noch. Da war wieder dieses familiäre Gefühl, das Wanne 11 besonders auszeichnet. Da hat mich das Feuer gepackt, da wollte ich wieder hin.“
Er trainierte seinen Sohn, wollte dann einen Trainerschein machen. „Ich habe mich danach erkundigt. Keine Chance, es gibt einen praktischen Eignungstest.“ Heermann kann kaum hinter einen Ball treten.
Mit seinem Sohn wechselte er als Trainer in die Jugendabteilung des SC Westfalia. Trainerschein, zweiter Anlauf? SCW-Jugendleiter Reinhard Palluch stellte ihn dem Verbandssportlehrer Helmut Horsch vor. Heermann durfte mitmachen, doch die Chance war gering: „In der praktischen Fußballprüfung hatte ich von Vornherein null Punkte. Mit der Trainingseinheit auf dem Platz und dem theoretischen Prüfungsteil musste ich fast alle Punkte holen.“ Er bestand, bekam sogar den Qualifikationsvermerk, die Berechtigung zur nächsthöheren Trainerlizenz.
Im Mai 2014 dann der nächste Aufstieg: Hans Bruch wurde als Trainer von Westfalias Oberligateams entlassen, das A-Junioren-Gespann Jörg Tottmann/Tom Heermann bewahrte Westfalia vor dem drohenden Abstieg in die Westfalenliga. Heermann ging als Co-Trainer unter Manuel Bölstler in die neue Saison, wurde dann aber wenige Monate später gegangen, weil Holger Wortmann als SCW-Cheftrainer übernahm und Bölstler auf den Co-Trainerposten zurückrutschte.
Zurück nach Hause
Und Heermann? Ging zurück nach Hause zum SV Wanne 11, sollte dort mit der A-Jugend etwas aufbauen, in die Bezirksliga aufsteigen. Diese Aufgabe trat aber spätestens in diesem Oktober in den Hintergrund: Als der Verein und Trainer Roger Petzke nach elf Jahren getrennte Wege gingen, durfte Heermann auf die Trainerbank des Landesligateams, zunächst für ein Spiel.
Ein besonderer Moment: „Normalerweise spreche ich nur ganz kurz vor dem Spiel in der Kabine. Vor dem Spiel gegen Heven dauerte es länger. Ich habe den Jungs gesagt: Für mich schließt sich hier ein Kreis. Meine Geschichte, diese Verbindung gibt mir auch Kraft und ist mein Ansporn für diesen Job.“ Wanne 11 gewann das Spiel 5:0, das Publikum an der Hauptstraße feierte mit stehenden Ovationen.
Seine Behinderung, die für jeden sichtbar ist, wenn er um oder über den Platz geht, spielt dabei kaum eine Rolle – zumindest nicht für die, auf die es ankommt: „In Rheine haben mich die Fans mal als Humpelhannes beschimpft. Wie willst du denn einen Oberligisten trainieren, du kannst ja kaum laufen, haben sie gerufen. Aber mit Spielern hatte ich deswegen nie ein Problem.“ Wer Heermann im Gespräch mit seinen Spielern erlebt und beobachtet, sieht: Sie vertrauen ihm. „Auch als Trainer versuche ich meine Geschichte einzubringen, um den Spielern zu zeigen, was möglich ist.“
Heermann hat ein schweres 2015 mit familiären Problemen hinter sich. Er fiel in ein Loch, auch die Begleiterscheinungen des Schlaganfalls, die Lähmungen machten ihm zu schaffen. Er beantragte eine Reha, erstmals seit fast zwanzig Jahren. „Als die Rentenversicherung das genehmigte, sollte es direkt losgehen. Da hatte ich aber gerade die Landesligamannschaft übernommen. Es ging aufwärts mit mir, diese Aufgabe hat mir Kraft gegeben. Jetzt wollte ich nicht mehr weg.“ Die Versicherung stimmte zu, verlegte die Reha in die Winterpause.
Nach dem geglückten Debüt durfte Heermann bis zum Jahresende weitermachen, gewann noch zwei Heimspiele, führte die Elfer von den Abstiegsplätzen. Am Montag nach dem 3:0 gegen Mühlhausen einigte sich der Vorstand mit ihm auf eine weitere Zusammenarbeit. Mindestens bis zum Sommer, am liebsten noch länger. Am nächsten Tag fuhr Heermann in die Reha, wo er heute Weihnachten feiert.
„Fußball ist meine liebste Freizeitbeschäftigung“, sagt Tom Heermann. Manchmal scheint es, als wäre es noch ein bisschen mehr.