"Nach Olympia bin ich in ein Motivationsloch gefallen, aber jetzt bin ich wieder heiß auf Wettkämpfe. Wir wollen natürlich wieder um alle Titel spielen", sagte Boll. Der Druck wird nach dem Dreifach-Triumph von Belgrad 2007 allerdings ungleich größer sein. Bundestrainer Richard Prause mahnt: "Wir sind die Gejagten und müssen uns dem stellen." Zum Auftakt der Titelkämpfe peilen Einzel-Champion Boll, Doppel-Europameister Christian Süß und der EM-Dritte Dimitrij Ovtcharov (alle Düsseldorf) erneut Gold im Team-Wettbewerb an. In Frankreich, Dänemark und Ungarn warten schon in der Gruppenphase unangenehme Gegner, die Hauptkontrahenten sind laut Prause jedoch andere: "Kroaten und Österreicher sind sehr, sehr gefährlich."
Dabei erhält der Bundestrainer Verstärkung von "Mr. Tischtennis" Jörg Roßkopf. Der Rekordnationalspieler gibt in Russland sein Debüt als Co-Trainer, legt die Messlatte allerdings nicht ganz so hoch. Nach Olympia seien viele Spieler müde, und die EM sei für den Trainer Roßkopf nicht der Maßstab, den er anlegen werde.
Dennoch ist das Team in der Breite so gut aufgestellt wie keine zweite Mannschaft in Europa, weshalb alles andere als die erneute Goldmedaille eine kleine Enttäuschung wäre. Im Doppel haben Boll und Süß zuletzt bei Olympia gezeigt, dass sie nur sehr schwer zu schlagen sind. Offener ist die Situation im Einzel, wo sich Boll nicht nur der Konkurrenz aus dem eigenen Team in Person von Shootingstar Ovtcharov erwehren muss. Der dreimalige Europameister Wladimir Samsonow (Weißrussland) wird nach dem Achtelfinal-Aus in Peking besonders heiß auf den Titel sein. Auch Österreichs Ex-Weltmeister Werner Schlager sowie der Überraschungs-Olympiavierte Jörgen Persson aus Schweden zählen zum Kreis der Titelkandidaten.
Neben der Medaillenjagd wird auch mit Spannung erwartet, wie die Spieler mit dem seit dem 1. September gültigen Frischklebeverbot zurechtkommen. Beinahe 30 Jahre lang trugen die Athleten mehrere Schichten Frischkleber auf die Beläge auf. Diese Kleber enthalten Lösungsmittel, wodurch der Belag auf dem Holz "schwimmt" und dem Ball mehr Tempo und Spin verleiht.
Da die Lösungsmittel jedoch Schläfrigkeit und Benommenheit verursachen können, hat der Weltverband ITTF diese Praxis nach jahrelangem Zögern verboten. Das Spiel ist dadurch um etwa 20 Prozent langsamer geworden, zwischen Olympia und EM standen so vorrangig Materialtests auf dem Programm. "Wir experimentieren noch ein bisschen herum", gibt Doppel-Spezialist Süß zu. Die deutschen Frauen haben neben der Materialumstellung noch andere Sorgen. Nach dem Debakel von Peking, wo das an Nummer sechs gesetzte Team in der Vorrunde scheiterte, soll in St. Petersburg die Rehabilitierung gelingen. "Wir wollen zeigen, was wir wirklich können", sagte Bundestrainer Jörg Bitzigeio. Einen ersten Rückschlag erlitt Bitzigeio bereits vor dem Abflug nach Russland am Donnerstag.
Die frühere Doppel-Europameisterin Elke Schall (Busenbach) klagt über eine schmerzhafte Entzündung im rechten Fuß und fällt für das Championat aus. Voraussichtlich am Dienstag wird die 35-Jährige operiert. Auf eine Nachnominierung verzichtete der Bundestrainer allerdings.