Eine halbe Stunde nach dem 2:1 (2:1) in Augsburg rollte ein hölzerner Transportwagen vor die Umkleidekabine des FC Schalke 04. Transportgut: zwei Kisten Bier. Teammanager Jan-Pieter Martens schleppte den Gerstensaft ein paar Meter weiter zu den Profis in die Kabine. Durch die offene Tür schallten die Sprechchöre: „Vizemeister, Vizemeister, hey, hey!“ Mittendrin flogen die Kronkorken durch den Raum.
Bei der wilden Kabinenparty tat sich nicht nur Doppel-Torschütze Thilo Kehrer hervor, der zunächst Schalkes Führung per Hacke erzielt (23.) und nach Augsburgs Ausgleich durch Philipp Max (27.) per Kopf den Dreier gesichert hatte (34.). Nationalspieler Leon Goretzka hüpfte mit nacktem Oberkörper vor Trainer Domenico Tedesco herum – und bespritzte seinen Vorgesetzten mit dem gerade hereingeschleppten Bier. Stürmer Franco Di Santo filmte die Fete ebenfalls leicht bekleidet mit seinem Handy. Schalkes Profis ließen Hüllen und Hemmungen fallen – der komplette Druck fiel ab.
Heidel: „Getrunken hat keiner etwas“
Sogar der 35-jährige Routinier Naldo feierte, als wäre er in einen Jungbrunnen gefallen und würde gerade zu einer Teenager-Party hereinstürmen. Manager Christian Heidel zog eine Kurzbilanz der Kabinen-Party: „Der Inhalt von ein paar Sektflaschen wurde quer durch die Kabine versprüht. Getrunken hat dort keiner was. So muss das sein.“ Und was war mit dem Bier? Heidel schelmisch: „Es war nicht unsere Hausmarke. Das hat nicht geschmeckt.“
Schöner und ausgelassener hat Schalke noch nie einen zweiten Platz gefeiert, auch wenn im Mai 2010 nach der 0:2-Heimniederlage gegen Bremen die La Ola durch die Veltins-Arena schwappte und der damalige Schalke-Trainer Felix Magath als Vizemeister sichtlich ergriffen eine Ehrenrunde laufen musste.
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2001 jubelte Schalke schon vier Minuten lang über die vermeintliche Meisterschaft, Tausende von Fans feierten im Innenraum, ehe Bayern München in der Nachspielzeit in Hamburg das 1:1 erzielte und Schalke die Schale wegschnappte.Ganz Schalke erlebte damals den schlimmsten zweiten Platz aller Zeiten. Die Tränen der Spieler, Verantwortlichen und Fans hätten damals einen ganzen See füllen können.
Der Schalker Weg soll noch nicht zu Ende sein
Diesmal ist der erste Rang hinter Bayern eine hohe Auszeichnung für Schalke. 60 Punkte hat das Team. „Man spürt, dass hier etwas zusammengewachsen ist, aber unser Weg ist noch nicht zu Ende“, sagt Heidel.
Auf die Frage, was sich denn zwischen Platz zwei, der Champions-League-Qualifikation und dem Status als Nummer eins vor dem BVB im Ruhrpott für ihn am besten anfühlt, sagt Heidel: „Die Vizemeisterschaft!“ Für ihn ist es wie ein gefühlter Titelgewinn. Sichtlich stolz sagt der 54-Jährige: „Viel mehr geht nicht.“
Möglicherweise doch: Wenn Bayern München am 19. Mai im Berliner Olympiastadion das Pokal-Finale gegen Eintracht Frankfurt gewinnen sollte, würde Schalke als Vizemeister anstelle von Eintracht am Super-Cup teilnehmen. Kurz vor dem Start der Bundesliga-Saison 2018/19 wäre dann im August sogar ein Titel für die Schalker drin.
So weit will Christian Heidel noch nicht denken. Er genießt den Augenblick und ist stolz auf die Früchte der Arbeit. „Wir haben geliefert“, sagt er. Und heftet sich die Lorbeeren nicht ans eigene Revers.
Trainer-Entdeckung Domenico Tedesco, den Heidel vor einem Jahr vom Zweitligisten Erzgebirge Aue holte und mit dessen Verpflichtung er ein Risiko einging, bekommt vom Manager ein dickes Lob.
Tedesco gibt Lob an Spieler weiter
„Ich kann mich noch erinnern, wie ich mit Domenico im Mai 2017 auf meiner Terrasse gesessen habe“, erzählt Heidel. „Wir haben über viele Dinge gesprochen. Alles, was Domenico seinerzeit gesagt hat, hat er umgesetzt und sogar noch getoppt. Riesen-Kompliment und ein großes Dankeschön.“ Tedesco freuen solche Sätze, aber er ist kein Typ, der das Rampenlicht genießen möchte. Der Deutsch-Italiener gibt den Applaus an seine Profis weiter. „Wenn die Spieler für dich nicht durchs Feuer gehen können oder wollen, bist du als Trainer machtlos“, sagt er.
Tedesco ist es mit seiner respektvoll-sympathischen Art, seinen mitreißenden Ansprachen und messerscharfen Analysen binnen weniger Wochen gelungen, die komplette Mannschaft hinter sich zu bringen.
„Man kann vor Schalke nur den Hut ziehen, was sie in dieser Saison geschafft haben“, sagt Augsburgs Geschäftsführer Stefan Reuter. Das war, bevor er sich Schalkes klebrig durchnässte Kabine ansah...