Der deutsche Fußball durchläuft eine schwierige Gegenwart. Thilo Kehrer soll zu einer besseren Zukunft gehören. Der 22 Jahre alte Defensivspieler gab im September gegen Peru sein Debüt in der Nationalelf. Der Sohn einer burundischen Mutter und eines deutschen Vaters gilt als eines der größten Talente hierzulande und gehört zu einem Block von Spieler in der DFB-Auswahl, die den Jahrgängen 1995/96 entstammen. Für 37 Millionen Euro kaufte ihn im Sommer Paris St. Germain dem FC Schalke ab. So wurde Kehrer zum teuersten Bundesligaabwehrspieler aller Zeiten. Ein Gespräch über Geld, seine Kindheit in Afrika, Training gegen den französischen Weltstar Kylian Mbappé und wo in der deutschen Nachwuchsarbeit Fehler gemacht werden.
Herr Kehrer, wie fühlt man sich, wenn man 37 Millionen Euro kostet?
Das ist für mich keine Summe, an der ich mich festhalte oder die ich überbewerte. Das ist auch ein Stück weit Wertschätzung für meine Leistung, aber hat mit mir als Person wenig zu tun. Die Ablösesummen gehen immer höher – das ist momentan der Markt.
Diese Ablöse ist auch deshalb speziell, weil Ihre Mutter aus einem der ärmsten Länder der Welt stammt: Burundi. Sie selbst haben dort und in Ruanda noch bis zu ihrem fünften Lebensjahr gelebt. Welche Erinnerungen haben Sie an Afrika?
Meine Eltern haben schon vor meiner Geburt dort gelebt. Damals war Bürgerkriegszeit und es gab den Völkermord von Ruanda 1994. Ich selbst habe noch ein paar kleine Erinnerungen an Afrika. Und das hat mich demütig werden lassen. Ich weiß einfach, was ich und meine Familie haben. Und dass es anderen Menschen sehr viel schlechter geht. Deshalb bin ich sehr dankbar für alles, was ich erleben darf.
Erinnern Sie Ihre Eltern heute hin und wieder an Ihre Herkunft, da Sie nun ja in einer Welt der vielen Millionen Euro leben?
Es ist seit meiner Kindheit und Jugend so, dass wir immer mal wieder darüber sprechen. Dass es sehr wichtig ist, nichts von dem, was wir heute haben, als selbstverständlich anzusehen. Auch aus diesem Grund beteilige ich mich an Hilfsprojekten, die sich in Burundi engagieren, um auch etwas zurückzugeben und den Menschen zu helfen, die nicht in einem hohen Standard leben können.
Als Sie für 37 Millionen Euro nach Paris gewechselt sind, hat die Höhe der Ablöse viele überrascht. Wie hat Ihnen Ihr Trainer Thomas Tuchel erklärt, warum er so viel Geld für Sie ausgibt?
Wir hatten sehr ausgiebige Gespräche, in denen er meine Stärken und mein Talent hervorgehoben hat. Er hat gesagt, dass er unbedingt mit mir arbeiten möchte. Und ich war sehr angetan von den Möglichkeiten, die er mir aufgezeigt hat, wo und wie ich mich weiterentwickeln kann.
Dennoch war Ihre Anfangszeit bei PSG nicht so einfach. Sie haben bisher erst ein Spiel über 90 Minuten gemacht.
Es sind viele Umstellungen auf mich zugekommen. Es ist in Paris schon sehr vieles anders und logischerweise neu für mich. Der Klub ist größer, die ganze Aufmerksamkeit ist höher, und die Mentalität ist anders. Das ist eine Herausforderung jeden Tag. Aber ich merke, dass ich mich immer mehr anpasse und hineinfinde in die Mannschaft. Mit meiner Entwicklung bin ich eigentlich sehr zufrieden und möchte daran anknüpfen.
Hat Ihnen Tuchel einen Rat gegeben? Und hilft es Ihnen, dass Sie im Ausland einen deutschen Trainer haben?
Ja, das hilft mir auf jeden Fall. Er gibt mir oft Tipps. Er versucht, mir den Druck zu nehmen, den ich mir manchmal selber mache. Er hat gesagt: Entspann dich! Erwarte nicht zu viel von dir! Das alles tut mir gut.
Wer hat Sie zuletzt im PSG-Training beeindruckt?
Die gesamte Qualität des Kaders ist natürlich extrem hoch. Und für mich mit 22 ist es unglaublich gut, jeden Tag mit Weltklasseleuten zu trainieren. Ich kann mir sehr vieles abgucken und jeden Tag im Training dazulernen.
Mbappé ist ja sogar noch jünger als Sie. Wie ist das, wenn man mit dem trainiert? Rennt der im ersten Training gleich mehrfach an einem vorbei?
(lacht) Nein, so war es nicht. Ich hatte mich vorbereitet, um zu wissen, was auf mich zukommt. Ich wollte mich vom ersten Trainingstag an mit so wenig Ehrfurcht präsentieren wie möglich. Wenn ich da auf dem Platz stehe, denke ich nicht: Boah, was für tolle Spieler sind das hier? Nein, ich versuche, zu zeigen, dass ich mit meinen Qualitäten der Mannschaft helfen kann. Und ich merke ja auch in der Kabine, dass das alles ganz normale Jungs sind. Sicher, Kylian ist ein überragender Spieler. Seine Fähigkeiten, oder auch die von Neymar, die gibt es nur ganz, ganz selten auf der Welt. Aber für mich kann das nur gut sein.
Der deutsche Fußball befindet sich in einer schwierigen Phase. Sie selbst sind Teil zweier Jahrgänge, die die Zukunft gestalten könnten: die 1995 und 1996 Geborenen. Dazu gehören Leon Goretzka, Joshua Kimmich, Niklas Süle, Timo Werner, Julian Brandt und Leroy Sané. Wie würden Sie Ihre Generation beschreiben?
Da sind sehr viele talentierte Spieler dabei, aber viele von uns sind auch von der Mentalität her starke Persönlichkeiten.
Man hat den Eindruck, da sind sehr klare Köpfe dabei. Woher kommt das?
Alle von diesen Jungs sind schon sehr früh fokussiert gewesen auf ihre Ziele und bekamen auch schon früh in ihren Klubs Spielpraxis. Wir bringen alle eine gewisse Siegermentalität und einen besonderen Ehrgeiz mit: Wir wollen in jedem Spiel unbedingt gewinnen und wir wollen uns unbedingt weiterentwickeln. Das gepaart mit dem Talent, das jeder einzelne von diesen Spielern hat, führt dazu, dass so viele aus dem 95/96-Jahrgang schon im Kreis der Nationalmannschaft angekommen sind.
Sie haben mal gesagt, dass in der deutschen Nachwuchsarbeit stärker auf Individualismus gesetzt werden müsste. Wie haben Sie das gemeint?
Es ist meiner Meinung nach wichtig, dass junge Spieler ihre eigene Persönlichkeit entwickeln können. Dass sie sich selbst ausleben können, eigene Charaktere werden, so schnell wie möglich auch Führungsqualitäten entwickeln.
Haben Sie das Gefühl, dass es im deutschen Fußball eine zu große Gleichmache gibt? Das ist ja ein großer Kritikpunkt seit der verkorksten WM.
Ich kann nur von meinem Gefühl sprechen. Meiner Meinung nach wird sehr viel im taktischen Bereich geschult. Es wird sehr viel Wert auf Disziplin gelegt. Und da gerät vielleicht zwangsläufig ein bisschen in den Hintergrund, dass sich auch die Persönlichkeit eines Spielers entwickeln muss – ohne das große Ziel aus den Augen zu verlieren.
Auffällig bei ihrer Generation ist, dass viele sehr variabel einsetzbar sind. Sie selbst können Innenverteidiger, Außenverteidiger und auch Sechser spielen. Woher kommt diese Vielseitigkeit.
Wir mussten sehr früh lernen, uns anzupassen. Wir haben sehr früh taktisch alle Positionen verinnerlicht. Das ist der Grund. Und ich denke, das ist etwas sehr Gutes. Jede Mannschaft profitiert von flexiblen Spielern.
Auf welcher Position sehen sie sich denn selbst? Im Moment gibt es ja in der Nationalelf vor allem eine Vakanz auf der Außenverteidigerposition.
Ich sehe mich als flexiblen Spieler. Es ist kein Geheimnis, dass ich mich in der Innenverteidigung sehr wohl fühle. Dass ich mich in verschiedenen Systemen wohlfühle. Aber auch als Außenverteidiger geht es gut.
Wenn also Joachim Löw Ihnen sagen würde, dass außen Ihre Chance in der Nationalelf liegen würde…
…dann mache ich das sehr gerne. Ich will mich ja weiterentwickeln.
Wohin trägt Sie diese Entwicklung in zwei Jahren?
(überlegt) Ich bin jung und total offen, will mich entwickeln, ohne mich unter extremen Druck zu setzen.
In zwei Jahren steht eine EM an.
Ich kann auf jeden Fall sagen, dass ich sehr gerne dabei sein möchte. Darauf arbeite ich jeden Tag hin.
Autor: Jörn Meyn