Erfolg und Misserfolg liegen im Fußball eng beieinander. Als Rot-Weiss Essen am zweiten Spieltag dieser Regionalliga-Saison den Wuppertaler SV empfing, war die Angst auf Seiten der RWE-Fans vor einem Déjà-vu groß. Wie schon im Vorjahr trugen die Rot-Weissen das erste Heimspiel gegen den Rivalen aus dem Bergischen Land aus. Damals unterlag RWE nach einer desolaten Vorstellung mit 1:3. Wie in den Jahren zuvor wich die anfängliche Euphorie schon zu diesem frühen Zeitpunkt Wut und Enttäuschung. Mannschaft und Trainer waren in der Folge Anfeindungen und Pfiffen ausgesetzt. Die mangelnde Geduld der Fans, eine Folge jahrelanger sportlicher Stagnation, schleppte der Verein zuletzt als Hypothek mit.
Nach der unglücklichen Auftaktpleite in Rödinghausen schien sich dieses Problem fortzusetzen. Doch es kam anders. RWE spielte sich in einen Rausch und fegte die Wuppertaler mit 5:1 aus dem Stadion. Der Großteil der über 11.000 Zuschauer im Stadion Essen war sich nach dieser Gala einig: Mit dieser Mannschaft ist etwas möglich.
Große Euphorie im Umfeld
Den Schwung nahm RWE mit. Die nächsten drei Spiele wurden gewonnen. Essen steht nach fünf Spieltagen verdientermaßen an der Tabellenspitze. Der WSV-Sieg war das erfolgreiche Schlüsselspiel, die Initialzündung, die Mannschaft, Trainer und Fans dringend benötigt haben. Die Hypothek wurde abgelöst. Stattdessen werden die Spieler nun endlich vom größten Faustpfand des Vereins beflügelt. Über 2000 Essener Fans begleiteten das Team zu den Auswärtsspielen ins Siegerland und nach Herkenrath. Am Freitagabend gegen den Bonner SC könnte sich der Kassenwart wieder über eine fünfstellige Besucherzahl freuen. Die Fallhöhe ist bei einem Traditionsverein wie Rot-Weiss Essen enorm hoch. Dieses Mal ist RWE stehen geblieben. Wenn es sportlich läuft, ist in Essen einiges möglich.
Dass es wieder läuft, ist ein Verdienst der sportlichen Verantwortlichen. In Karsten Neitzel wurde nach zahlreichen Fehlgriffen endlich der passende Mann gefunden. Der ehemalige Bochumer spricht das aus, was er denkt. Seine Mannschaft spielt mutig und schnell nach vorne. Hafenstraßen-Fußball. Das gefällt dem Anhang. Zusammen mit Jürgen Lucas, der in der letzten Saison ebenfalls in der Kritik stand, hat er den Kader für diese Spielidee entsprechend angepasst. Daniel Heber, Lukas Scepanik, Kevin Freiberger oder Florian Bichler bringen das nötige Tempo mit. Eine Qualität, die Dennis Malura oder Kamil Bednarski nicht für sich reklamieren konnten. Auch Lukas Raeder ist eine klare Steigerung auf der Torhüter-Position. Zudem ist der Vorwurf einiger übermütiger Essener Amateurfußballer, der Mannschaft mangele es an "Local Heroes", entkräftet worden. Timo Brauer, Kevin Freiberger, Lucas Raeder und Nico Lucas sind gebürtige Essener. Timo Becker und Daniel Heber trugen bereits in der Jugend das Essener Trikot. Die Mischung stimmt.
Konkurrenz und Spielplan sprechen für RWE
Viel war von den Verantwortlichen vor der Saison nicht zu hören. Saisonziele wurden nicht öffentlich formuliert, stattdessen ist in allen Bereichen gearbeitet worden. Und dies durchaus erfolgreich. Denn nun sind die Bergeborbecker auch auf sportlicher Ebene reif für den Profifußball. Die Basis dafür hatte Uhlig-Vorgänger Michael Welling im wirtschaftlichen Bereich geschaffen.
RWE darf sich gute Chancen ausrechnen, in dieser Saison ohne Relegation kräftig um den Aufstieg mitzumischen. Einen übermächtigen Gegner gibt es dieses Mal nicht. Viktoria Köln ist vom Verletzungspech geplagt, Rot-Weiß Oberhausen macht das Beste aus seinen Möglichkeiten, hat aber in seinem jungen Team noch nicht die Klasse, um dauerhaft ganz oben zu bleiben. Da vom Rest der Liga wenig Gefahr ausgehen dürfte, spricht derzeit viel für die Essener, die auch vom leichten Auftaktprogramm profitieren. Gelingt es dem Neitzel-Team die anstehenden Pflichtaufgaben zu lösen, wird RWE so schnell nicht aus der Spitzengruppe zu verdrängen sein. Erst recht nicht mit einem euphorisierten Umfeld im Rücken, das kaum ein anderer Viertligist in Deutschland zu bieten hat.
Autor: Martin Herms