Der Rahmen war angemessen. In einer Loge der Arena, die nach dem sechsfachen Meisterspieler Otto Tibulsky benannt wurde, würdigte der FC Schalke 04 seinen wohl bedeutendsten Spieler der vergangenen Jahre: Benedikt Höwedes. Die ursprünglich angesetzte Zeit für die Gesprächsrunde „90 Minuten – ein Abend unter Schalkern“ reichte bei weitem nicht. Etwa doppelt so lang sprachen Höwedes und auch die Überraschungsgäste Norbert Elgert und Christian Pander über den Weltmeister von 2014.
Vor 300 Gästen zeigte sich Höwedes dabei offen wie nie zuvor – vor allem, als es um seinen unrühmlichen Schalke-Abschied im Sommer 2017 ging. Es war der Tiefpunkt in der erfolgreichen Karriere des inzwischen 36-Jährigen. Vom damaligen Trainer Domenico Tedesco wurde Höwedes im Sommer 2017 rasiert. Ohne eine echte Erklärung.
Nachdem Höwedes weite Teile der Sommervorbereitung verpasst hatte, baute der neu verpflichtete Tedesco überraschend nicht mehr auf den Innenverteidiger, der zuvor sogar Kapitän war. „Die Wahrheit ist: Ich habe im halben Jahr zuvor immer unter Schmerzen gespielt, mit drei Spritzen pro Spieltag, weil der Verein mich darum gebeten hatte. Sie sagten, ich sei so ein wichtiger Spieler und werde gebraucht“, erklärte er. Höwedes stimmte zu und verschob eine eigentlich notwendige Operation an der Hüfte, um dem Verein zu helfen.
Dank für diesen gesundheitsgefährdenden Einsatz? Fehlanzeige. Besonders ärgerte sich Höwedes damals über die Art und Weise der Schalker Kommunikation. Diese sei „respektlos“ gewesen: „Es ging für mich um den Umgang. Es wurden Unwahrheiten in die Welt gesetzt und damit bin ich nicht zurechtgekommen.“
Höwedes wollte nichts mehr mit Schalke zu tun haben
Trotz seines Einsatzes über 16 Jahre für Schalke war er vom einen auf den anderen Tag nicht mehr erwünscht. „Es war ein ‚Geh mal bitte‘ – ohne das ‚Bitte‘“, beschrieb er die Kommunikation mit den damaligen Verantwortlichen um Trainer Tedesco und Sportvorstand Christian Heidel. „Ich war sehr, sehr enttäuscht, war sehr verletzt“, so Höwedes.
Der Weltmeister, der Schalke eigentlich nie verlassen wollte („Trotz Angeboten, die ich immer mal wieder hatte, wollte ich hierbleiben, weil ich sicher war, es ist schöner, mit Schalke Titel zu gewinnen – das war mein Antrieb“) zog im Sommer 2014 auf Leihbasis weiter zu Juventus Turin, ein Jahr später wechselte er zu Lokomotive Moskau. Doch auch aus der Ferne konnte er den Schalke-Abschied zunächst nicht gut verarbeiten. „Es hat mich mental so sehr mitgenommen, dass ich rückblickend glaube, dass ich danach auch deshalb von Verletzung zu Verletzung gerutscht bin“, sagte er.
Ich habe damit abgeschlossen. Es ist Vergangenheit
Benedikt Höwedes
Weitere Details wollte Höwedes nicht nennen, „weil ich es nicht gut finde, wenn man nachtritt“, erklärte er. „Es wäre schlechter Stil, wenn ich auf Details herumreiten würde.“ Fakt ist aber, dass sich Höwedes einen anderen Abschied gewünscht hätte. Über mehrere Jahre wollte er anschließend am liebsten gar nicht mehr öffentlich über Schalke sprechen. „Es hat ein paar Jährchen gedauert“, gab er zu. „Ich wollte nichts mehr mit Schalke zu tun haben. In den Sozialen Medien bin ich allen Spielern entfolgt, dem Verein entfolgt, ich habe wirklich lange gebraucht, um das zu verarbeiten.“
Heute – sieben Jahre nach dem schon damals viel diskutierten Abschied – könne er aber wieder über die Zeit reden: „Ich habe damit abgeschlossen. Es ist Vergangenheit.“ Mit all den Jahren haben sich Höwedes und Schalke wieder angenähert. Inklusive zwei weiterer emotionaler Höhepunkte für den 36 Jahre alten Familienvater: Da wäre sein Gastspiel in der Arena mit Moskau in der Champions League. Nach der Partie im Dezember 2018 wurde er im Trikot der Russen ausgiebig von den S04-Fans besungen und gefeiert. „Es war superemotional, ich hatte Tränen in den Augen“, sagte er.
„Egal, wie sehr man den Verein verflucht – Schalke holt dich immer wieder zurück und zieht dich in seinen Bann“, erklärte Höwedes seine emotionale Wiederannäherung an die Königsblauen. „Diese tolle Atmosphäre, die Leidenschaft in diesem Verein holt mich immer wieder zurück, das kann man einfach mit keinem anderen Verein vergleichen.“
Sein zweiter Gänsehaut-Moment nach dem Abschied: Die Mitgliederversammlung 2023. Dort wurde er zum insgesamt zehnten Ehrenspielführer des Klubs ernannt. Eine späte Anerkennung für seine Leistungen in 333 Pflichtspielen für Schalke. „Da hatte ich Tränen in den Augen und musste mit mir kämpfen“, erinnerte er sich an den Moment der Ernennung auf der Bühne in der Arena. „Danach saß ich im Auto und musste heulen wie ein Schlosshund. So etwas lässt mich nicht kalt. Gerade, weil ich damals gegangen worden bin. Es waren so viele tolle Momente und so ein blödes Ende.“
Als der einstige Kapitän und Fan-Liebling diese emotionalen Momente schilderte, mussten auch einige der 300 anwesenden Fans in der Tibulsky-Loge schlucken – denn sie tragen Höwedes noch immer im Herzen. Als Video-Sequenzen mit Toren, Grätschen und Erfolgen des Verteidigers gezeigt wurden, applaudierten die Fans. Viele der Anhänger würden den 36-Jährigen gern wohl noch heute im königsblauen Trikot auf dem Rasen sehen. Ein solches Comeback ist natürlich ausgeschlossen – doch mit seinen Erzählungen konnte Benedikt Höwedes dafür sorgen, dass die bittere Realität in der 2. Bundesliga zumindest für den Moment vergessen werden konnte.