Und immer wenn Bernard zu Besuch war, rief sie „Ennatz kommt, Ennatz kommt“. Der Spitzname war geboren, wie auch der Name des MSV-Maskottchens, der durch ein Internet-Voting zustande kam. RevierSport unterhielt sich mit dem Ex-Profi über seine bewegten Fußballjahre, seine persönlichen Tiefschläge, seine aktive Karriere als Spieler wie auch als Trainer und an welchem Verein sein Herz noch immer hängt.
Was macht denn eigentlich der „Fußball-Rentner“ Bernard Dietz im Moment? Wie gestalten Sie Ihren verdienten Ruhestand? Zurzeit bin ich mit der „Fußballschule Bernard Dietz“ unterwegs, die mein Sohn Christian im letzten Jahr gegründet hat. Auch, weil er meinte, dass ich mit fast 60 Jahren nicht nur spazieren gehen und eine schönes Leben führen soll, sondern meine Erfahrung den Kindern und Jungen mitgeben. Wir wollen damit in erster Linie keinen Leistungsfußball betreiben, sondern den Straßenfußball, den ich früher selbst praktiziert habe, als das Verkehrsaufkommen noch nicht so groß war, in den Verein reinzuholen. Im Übrigen ein Privileg, das die Kinder von heute gar nicht mehr so kennen, weil man um 1950 erst mit zehn Jahren in einen Club eintreten konnte. Wir haben uns selbst organisiert, Straßenkämpfe und Meisterschaften ausgefochten. Genau das möchten wir den Kids von heute vermitteln. Auch um damit Haltungsschäden und Bewegungsmangel auszugleichen. Dazu bieten wir kindgerechte Übungen an, um mit Spaß, Freude und Kreativität an das Training herangehen.
Wie einfach oder wie schwer war die Umstellung der Trainertätigkeit von Alt auf Jung? Bisher haben Sie ja nur Senioren-Teams geleitet! Ich hatte zu Beginn schon einige Probleme und musste umdenken, weil ich ja nur mit Profis oder Oberligamannschaften zu tun hatte. Das war schon eine Umstellung mit den Sechs- bis Vierzehnjährigen, zumal bei den Camps ja nicht nur Vereinskinder mit dabei sind. Wir möchten einfach verschiedene Typen zusammenbekommen, um eine Bindung mit Fremden, ein gegenseitiges Miteinanderumgehen und Integration zu lernen, weil die heutige Generation für mich zu egoistisch geworden ist.
Was gibt Ihnen diese Tätigkeit, die direkte Arbeit an der Basis persönlich? Das gibt mir sehr viel. Kinder, gesunde Kinder sind unsere Zukunft. Vor allem, wenn ich in deren strahlende Augen schaue, auch wenn sie denn Fußballer Bernard Dietz gar nicht mehr kennen. Von Papa haben die dann gehört, wer ich bin. „Du hast mal für Deutschland gespielt?“, fragen die mich dann, während ich ihnen die Schuhe zubinde. Das ist sehr schön. Man ertappt sich schon dabei, dass man wieder Kind wird und auch etwas ist. Als Opa fühle ich mich dabei aber nicht. Ich bin eher der Großvater, das hört sich liebevoller an.
Ertappen Sie sich dabei, dass man selbst an seine Kindheit zurückdenkt? Natürlich. Ich bin jemand, der für die Zukunft in die Vergangenheit schaut. An manchen Tagen ist man sehr eingekehrt und denkt nach, da geben einem die Erinnerungen wieder Halt und Freude. Ich ertappe mich sogar dabei, dass ich denke, damals war man zufriedener, da die Menschlichkeit, die Nähe, der Zusammenhalt und die Gemeinschaft einfach größer waren.
Punkte, die Sie in Ihrer schweren Jugend fürs Leben geprägt haben? Ja. Mein Vater war Bergmann, wir waren sechs Geschwister. Eigentlich neun, aber die drei vor mir haben es wegen Krankheit oder zu wenig Essen leider nicht geschafft und sind nach wenigen Wochen oder Monaten verstorben. Ich war der Nachzögling, aber trotzdem hatte ich ein wunderbares Elternhaus. Wir hatten nichts oder nicht viel und waren die letzten auf der Goethestraße in Bockum-Hövel, die sich einen Fernseher erlauben konnten – aber wir waren glücklich, selbst im Winter mit Pappe in den Schuhen und gefrorene Füßen. Deshalb sehe ich noch heute nur den Menschen, egal ob er Oberbürgermeister ist oder in der Kreisliga die Asche abkreidet.
Welche Erinnerung haben Sie noch an Ihre aktive Zeit als Straßenfußballer?
In der Zeit, als ich groß geworden bin, gab es keine Urlaubspläne und -flüge in Richtung Ibiza oder Mallorca. Da ging es von morgens bis mittags auf die umliegenden Bolzplätze oder Wiesen. Dann wurden Hölzer in den Boden gerammt und die Kugel lief. Schon da waren wir gut organisiert, auch was die Bildung von Teams oder Regeln anging. Wenn unsere Straße fünf Mann aufbieten konnte und die Nebengasse einen weniger, dann haben wir eben Vier-gegen-Vier gespielt. Nachmittags sind wir dann zum Schwimmen oder wie man in Westfalen sagt „Strömern“ gewesen. Sind durch die Wälder gerannt und über Hecken gesprungen. Heute weiß man, dass wir uns dadurch koordinativ geschult, unsere Muskulatur gestärkt und quasi selbst trainiert haben. Das ist heute nicht mehr so, weil Computer, Gameboy oder das Fernsehen vorherrschen. Und was ist von der Kindheit am meisten haften geblieben? Die intakte Familie und die Zeit der Arbeit, als ich schon mit dreizehn Lenzen eine Schmied-Schlosser-Lehre begonnen habe. Mit 17 war ich ausgelernt. Schon damals mussten wir körperlich sehr hart arbeiten.
Auch für die Zeit, um Fußball spielen zu dürfen? Ja. Ich spielte damals mit 16 in der ersten Elf der Landesligatruppe meines Heimatvereins, da habe ich zwei Schichten hintereinander gekloppt, um mittags auch fahren zu können, wenn der Urlaub aufgebraucht war. Als das erste Probetraining beim MSV Duisburg anstand, habe ich das auch so gemacht.
Mit 18 Jahren kam dann Ihr persönlicher Schicksalsschlag... Ich stand an einer Stanz- und Schweißmaschine, wo wir kleine Eisenringe vorarbeiten mussten. Die habe ich sauber gemacht. Unten war so ein kleines Pedal, das zwei backen bediente...da bin ich dann dran gekommen und es machte Batsch. An der rechten Hand waren mein Ring- und Mittelfinger zusammengequetscht. Leider konnten die Ärzte nichts mehr retten. Im ersten Moment geht da mit gerade mal 18 Jahren natürlich die Welt unter. Da hatte ich lange dran zu knabbern. Fußballerisch ging es aber aufwärts... Die Anfragen kamen aus Osnabrück, Lüner SV, Hamburg – aber als Köln zum Probetraining lud, leuchtete mein Herz. Eigentlich war ich bis dato 1. FC Köln-Fan, geprägt von meinem Vater, der aus Köln-Mülheim stammte. Ohne Führerschein und Auto bin ich dann mit Bekannten dahin. Da kommst du als junger Spund in die Kabine, da sitz da Wolfgang Overath, den ich nur aus dem TV kannte, und grüßte mich. Nach drei Trainingseinheiten musste ich dann in das Büro von Trainer Hans Merkle und bekam die Absage. Nach ein paar Tagen meldete sich dann doch jemand, aber nur um mir ein Leihgeschäft für den Lüner SV anzubieten. Das war mir aber zu undurchsichtig. In der Phase kam auch das Angebot des MSV. Also, hieß es wieder „Bekannte suchen“. Genau. Das gleiche Spielchen in Duisburg wie in Köln. Doch diesmal hatte der MSV großes Interesse. Mein Können hatte sich aber schon rumgesprochen. In der Zeit hatte ich auch meine ersten Einsätze in der Westfalenauswahl. Ich wurde zu einem Qualifikationsspiel der Amateur-Nationalmannschaft nach Österreich eingeladen, die von Jupp Derwall trainiert wurde. Dort traf ich Kicker wie Uli Hoeneß oder Ottmar Hitzfeld. Genau in der Zeit kam dann auch das Thema Olympiapass auf, gerade als Rudi Fassnacht sagte, dass er mich in Duisburg beim MSV haben wollte. Ein Problem führ mich. Ich stand vor der Entscheidung Olympiade oder Profi werden.
Wie das ausgegangen ist, wissen wir ja... Olympische Spiele hast du vier bis sechs Wochen, aber Fußball-Profi kannst du ein Leben lang werden. Dann habe ich in Duisburg zugesagt. Damals ging es mir aber nicht um Geld, ich wollte nur Fußball spielen. Alle passte. Als Stürmer mit der Nummer zehn habe ich gleich 1969/70 in der ersten Saison 19 Treffer erzielt. Ich konnte hinlaufen wohin ich wollte, die haben mich immer getroffen. Trotzdem sind Sie heimatverbunden geblieben. Ich habe deshalb schnell den Führerschein gemacht, weil ich in Bockum-Hövel wohnen bleiben wollte. Mit einem alten VW Käfer bin ich dann hin und her gependelt. Nach einem Jahr war der aber kaputt, dann habe ich mir einen anderen geholt. Der hatte dann auch so seine Macken und musste weg. Da habe ich dann meine Kontakte zu Uli Hoeneß genutzt, den ich ja schon von der Nationalmannschaft kannte. Uli stand schon damals in dem Ruf, wirklich alles besorgen zu können. Er rief dann an und sagte der kleine BMW mit 15% Rabatt ist bestellt. In Nürnberg habe ich den Wagen dann abgeholt, in knallorange. Das einzige Manko war das Radio. In Unterführungen ging es gar nicht, Kassetten konnte man auch nicht abspielen. Dafür hatte es ein Mikrofon an der Seite. Wozu weiß ich bis heute nicht. Wahrscheinlich die erste Frühform von Karaoke (lacht).
Was verbinden Sie noch mit WM 1974 im eigenen Land, an der Sie ja noch nicht teilnehmen durften? Im Herbst 1973 haben wir in Bockum-Hövel angefangen, unser erstes Haus zu bauen. Ich kann mich noch genau dran erinnern, weil ich zum Architekten sagte, dass wir im Juni 1974 – pünktlich zum Beginn der WM – fertig sein wollen. Ich möchte in meinem eigenen Wohnzimmer die Deutsche Elf sehen. Wir sind dann zwar nicht ganz fertig geworden, für ein paar Apfelsinenkisten und einen Tisch hat es noch gereicht. Aber wir waren drin. Als wir dann noch Weltmeister wurden, habe ich die Bude fast wieder abgerissen, so habe ich mich gefreut.
Nach Ihrer klasse Leistung gegen Kevin Keagen und Hamburg flatterte die erste Einladung für die A-Nationalmannschaft ins Haus. Als Stammspieler des MSV in der Saison 1974/75 hat mich das richtig stolz gemacht. Die Jungs kannte ich bisher nur aus dem Fernsehen. Auf dem Weg nach Frankfurt habe ich mir dann überlegt, sagst du Herr Beckenbauer oder Franz zu ihm. Im Quali-Spiel in Griechenland für die WM bin ich leider nicht zum Einsatz gekommen. Kurz danach durfte ich aber in Malta ran, weil auf dem harten Betonboden niemand kicken wollte. Zusammen mit Erwin Kostedde, dem ersten Farbigen, habe ich dann mein Debüt gegeben.
Es folgten erfolgreiche Länderspieljahre. Mit der Krönung zum Europameister 1980. Ich ärgere mich noch heute über den verpassten Titel 1976, weil ich eigentlich zu den Elfer-Schützen zählen sollte – aber ich habe dann mit Wadenkrämpfen gekniffen. Ich hätte eh als Letzter geschossen, aber durch den Himmels-Schuss von Uli kam es gar nicht so weit. 1978 bei der WM in Argentinien waren wir aber keine Mannschaft, weil die Jungs, wie Franz, Paul Breitner oder Uli Stielike, im Ausland kickten, nicht für unsere Farben auflaufen durften. Bei der Schmach von Cordoba war ich natürlich auch dabei. 1980 als Kapitän Europameister zu werden, war der größte Augenblick in meinem Fußballerleben. Der kleine Ennatz, der sich im Leben alles hart erkämpfen musste, auf dem Gipfel.
Diese wunderbaren Jahre erzählen Sie so in ein paar Minuten.
Das ist noch heute so, dass ich denke, damals ist alles wie ein Film an dir vorbeigelaufen. Ich habe mich total ausgeblendet, auch wenn ich vor 48.000 Menschen aufgelaufen bin. Das war schon unglaublich.
Wie auch die Vereinsjahre... Ja. Ich hatte zu meiner aktiven Zeit um 1980 die Chance nach Frankfurt, Dortmund oder Cosmos New York zu wechseln. Der Trainer Hennes Weisweiler wollte mich zu Franz und Pelé holen. Wir waren damals im Urlaub, als ein Zettel unter meinem Frühstücksteller lag. Ich dachte erst an einen Scherz, aber Weisweiler rief dann wirklich an. Ich habe nie für Geld Fußball gespielt, sondern aus Leidenschaft. Mein Schlüsselerlebnis war, dass meine Familie auf mich zukam und mich unter Tränen aufforderte, dass ich Duisburg nicht verlassen sollte. Ein Schuss mitten in mein Herz. Welche Erinnerungen sind beim MSV am stärksten haften geblieben? Die Bürde mit Duisburg, immer drin zu bleiben. Und natürlich die Highlights gegen Bayern. Vor allem das Jahr 1977, als ich gegen Kalle Rummenigge als rechter Verteidiger ran musste und zum 6:3-Triumph vier Treffer beisteuern durfte. Das Kuriose daran ist, dass bis heute kein Abwehrspieler so viele Tore erzielt hat. 1975 das Pokalfinale in Hannover gegen Frankfurt, das wir leider mit 0:1 verloren haben. Ganz bitter war der Abstieg im Jahr 1982, wo wir keine echte Mannschaft waren. Das war so chaotisch. Eigentlich wäre ich nie gewechselt, aber ich wurde vom Präsidium angehalten, zu wechseln. Als das klar war, habe ich die Sachen gepackt und geweint.
Mit 34 Jahren sind Sie dann nach Schalke gewechselt. Aber Duisburg ist und bleibt meine sportliche Heimat, da bin ich Nationalspieler geworden, auch wenn ich in Schalke unter anderem mit Siggi Held auch eine tolle Zeit hatte. Zu Beginn hatte ich einige Probleme. Kurz vor Bottrop dachte ich, was willst du hier, gleich bin ich Gelsenkirchen, aber du gehörst nach Duisburg. In der Trainingspause bin ich dann oft noch ins Wedaustadion gefahren und habe mich auf die Tribüne gesetzt. Irgendwie bin ich dann mit Schalke vom Regen in die Traufe gekommen. Wieder eine zusammengewürfelte Truppe. Eigentlich war ich dann froh, als der liebe Gott kam und mir im Training sagte „Bernard, das hast du nicht verdient“, und hat mir ein Außenband gerissen und den Innenmeniskus dazu. Da war meine Karriere vorbei, der endgültige Platzverweis für mich. Im Übrigen der einzige, den ich jemals erhalten habe.
Welcher Trainer hat Sie als Spieler besonders geprägt? Otto Knefler. Er war wie eine Vaterfigur, mit viel Disziplin und harter Hand. Man konnte ihn nicht übergehen, das hat mir schon imponiert. Er war mitverantwortlich, dass ich durch meine Handverletzung wieder zu meinem Selbstvertrauen gefunden habe. Wie würden Sie selbst den Fußball-Lehrer und „Scout“ Bernard Dietz bezeichnen? Ein Mann, mit dem Mann sehr gut umgehen kann, wenn man die gleichen Ziele hat. Das war gerade bei den junge, hungrigen Akteuren der Fall. Dann war auch der Erfolg da. Ich bin halt etwas altbacken. Die Zeit als Spielerbeobachter für Borussia Dortmund unter Coach Ottmar Hitzfeld und Jugendtrainer Michael Skibbe hat mir aber auch ganz gut gefallen, weil man sich da auch anders einbringen konnte. Auch, wenn es nur knapp vier Monate waren.
Nach dem Betriebsunfall in Ahlen haben Sie auch Ihre Trainerschuhe an den Nagel gehängt. Warum? Da war so viel Ärger und Chaos, so dass ich den Spaß am Fußball verloren habe. Hinter den Kulissen und meinem Rücken wurde zu viel gearbeitet. Der Knackpunkt kam nach dem 0:3 in Emden. Die Enttäuschung war einfach zu groß, weil ich mich total verarscht fühlte. Das wollte ich mir nicht mehr antun. Da gehe ich lieber mit der Trainer-Promi-Elf kicken, bevor ich mir diesen Mist noch länger antue.
Welchen Rat können Sie den Aktiven mit Ihrer langjährigen Erfahrung auf den Weg geben? Fußball ist und bleibt ein Mannschaftssport, wo Teamfähigkeit und Verantwortung gefragt ist. Das Ich-Denken muss weg, dann kommt der Erfolg von ganz alleine. Gerade die jungen Spieler müssen zuhören und die Anweisungen ausführen, denn Schulterklopfer gibt es reichlich.
Wo und wie werden Sie am heutigen Samstag Ihren 60sten Geburtstag feiern? Was wünschen Sie sich?
Eigentlich nur Gesundheit. Wir werden im engsten Familienkreis mit Kindern und Enkelkindern zuhause feiern. Trotzdem drücke ich dem MSV gegen Hannover beide Daumen, weil mein Herz nach wie vor dem Verein gehört.