Das Trainingslager ist auch immer ein Ort des Kennenlernens. Das gilt sowohl für die Mannschaft, als auch für die mitgereisten Fans, die dort auch mal intensiver mit den Spielern und den Verantwortlichen ins Gespräch kommen können. So auch in Herzlake. Als einer davon mit Essens Trainer Karsten Neitzel in Verbindung trat, fragte er, welche Ansprache ihm am liebsten wäre. „Mich nennen eigentlich alle ,Kalle’, entgegnete er, ehe das Pläuschen begann.
An der Alselager Mühle nahm sich Neitzel derweil auch Zeit für den RevierSport, um über seinen Wunsch an die Fans, die Neuzugänge und die Mentalität im Ruhrpott zu reden.
Karsten Neitzel, in den Gesprächen mit den Fans merkt man, dass sie beim Anhang offensichtlich gut ankommen. Warum ist das so? Die Frage kann ich selbst ja nicht beantworten. Für mich ist einfach wichtig, dass man sich nicht verstellt, sondern so ist wie man ist. Mit all seinen Stärken und all seinen Schwächen und dann ist auch gut.
Viele registrieren Ihre Emotionalität. Man kann laut coachen, man kann ruhiger coachen. Beides kann dem Erfolg zuträglich sein. Auch da sind letztendlich die Ergebnisse entscheidend für die Wahrnehmung. Wenn man am Spielfeldrand steht und da den Hampelmann macht, heißt es: Der geht mit, der frisst Kilometer in seiner Coaching Zone. Wenn man die Spiele aber verliert, heißt es, der Trainer bringt die Spieler mit seiner Quarkerei durcheinander. Wenn man draußen sitzt und sagt nichts, heißt es dann wieder, man ist sehr bedacht und analytisch. Wenn du dann verlierst, sagen Leute, dass man draußen einschläft. Auch da orientiert sich die Wahrnehmung ganz dicht am Ergebnis.
In gut drei Wochen geht es los. Welche Atmosphäre erwarten Sie im ersten Heimspiel? Was ich mir wünschen würde, ist, dass sich die Atmosphäre von der des Stimmungsboykotts in meinen ersten acht Meisterschaftsspielen unterscheidet und die Fans uns wieder als 12. Mann nach vorne peitschen.
Die Heimbilanz im vergangenen Jahr war durchwachsen. Wie kann die Hafenstraße wieder zur Festung werden? Indem wir einfach besseren Fußball anbieten, der taktisch, spielerisch und hinsichtlich der individuellen Qualität der Spieler das nächst höhere Level erreicht. Auch da helfen Ergebnisse. Das habe ich schon wieder im ersten Test gegen Fortuna Köln gemerkt. Wir haben in vielerlei Hinsicht ein gutes Spiel gemacht. Aber wenn wir so ein Spiel in der Liga machen, interessiert die Leistung am Ende niemanden, wenn es 0:0 ausgeht. Wenn wir so einen Chancenvorteil haben wie gegen Fortuna Köln, müssen wir das Spiel auch gewinnen. Das muss der nächste Schritt sein, da müssen wir hinkommen.
Inwiefern ist es denn überhaupt ein Vorteil, jedes Heimspiel vor einer großen Kulisse zu spielen? Das muss immer ein Vorteil sein. Ich habe elfeinhalb Jahre eine zweite Mannschaft in der vierten Liga gecoacht, vor 300 Zuschauern, ich kenne also das andere Extrem. Die eigenen Fans im Rücken zu haben, darf niemals ein Nachteil werden.
Kann das denn nicht auch lähmen? Das darf uns nicht lähmen. Auch in negativen Phasen müssen wir versuchen, uns bestmöglich davon freizumachen. Ein wichtiger Faktor für den Erfolg ist auch, wie wir als Verein, also Mannschaft aber auch die Fans, mit negativen Erlebnissen umgehen.
Haben Sie denn sowas wie den Stimmungsboykott schon einmal erlebt? Für die ersten Minuten eines Spiels habe ich das schon öfter erlebt. Das interessanteste Erlebnis war für mich noch als Zuschauer auf der Tribüne gegen Uerdingen. Da ist die Stimmung innerhalb von Minuten gekippt. Das ist das beste Beispiel, dass Ergebnisse das Wichtigste sind.
Sie haben gesagt, dass Sie für sich selbst nur zwei Tage gebraucht haben, um das Pokalfinale gegen Rot-Weiß Oberhausen zu verarbeiten. War es denn in der Mannschaft noch ein Thema? Je länger man damit hadert und zurückschaut, desto mehr zieht man sich in den Keller. Klar, war das für alle Beteiligten enttäuschend und dadurch fehlt uns der ein oder andere Euro. Aber ein Thema ist das nicht mehr.
Wie ist Ihr Eindruck von der Mannschaft? Ist sie wirklich stärker als in der vergangenen Saison? Ja, so ist mein Eindruck aus dem Training und ich hoffe, dass er sich im Wettkampf bestätigt. Jeder im Kader ist in der Lage, ein überdurchschnittliches, gutes oder gar überragendes Regionalligaspiel zu machen. Wir müssen dahin kommen, dass wir diese überdurchschnittlichen Leistungen konstant abrufen. Nicht nur in den Punktspielen, auch in den meisten Trainingseinheiten müssen die Spieler an ihre körperliche Grenze und grundsätzlich immer an die geistige Grenze gehen.
Welcher Neuzugang macht denn den besten Eindruck bisher? Da möchte ich niemanden herausheben. Fakt ist: Jeder, den wir geholt haben, musste nicht lange überlegen und das ist ein gutes Zeichen. Sie freuen sich auf die Saison und haben keine Angst vor den Aufgaben, die auf uns zukommen werden. Wir wollen endlich wieder mit den Fans in der Kurve feiern. Es muss wieder richtig geil werden, ins Stadion zu gehen. Wegen uns und um wieder dieses Hafenstraßenflair von früher zu genießen.
Sie haben mittlerweile einige Stationen erlebt und konnten sich einen besseren Eindruck von Rot-Weiss Essen verschaffen. Wo ist es denn angenehmer zu arbeiten? In einem kleineren Verein oder einem Traditionsverein wie RWE? Für mich auf jeden Fall in einem Traditionsverein wie RWE. Aber viel wichtiger ist, dass man zu den Verantwortlichen im Verein Vertrauen haben kann, das ich hier zu 100% spüre. Ich habe vor nicht allzu langer Zeit die Erfahrung gemacht, dass ein Verantwortlicher mir 45 Minuten vor Anpfiff in der Kabine über den Kopf gestreichelt hat und mir eine Stunde später auf der Tribüne alle Kompetenzen abgesprochen hat. So etwas brauche ich wie einen Pickel an der Nase.
Vom Grunde her sind die Menschen im Ruhrgebiet ja sowieso ehrlicher. Und positiver! Diese Erfahrung habe ich schon zu meiner Zeit beim VfL Bochum gemacht. Wir gehen mit der Devise in die Saison: Wir wollen Erfolg haben und jeder einzelne muss sich da maximal einbringen, ohne dass natürlich das Menschliche auf der Strecke bleibt.