Als Domenico Tedesco nach Spielschluss in die Kabine kam, wollte er alle wissen lassen, was er gerade fühlte. Wie stolz er auf seine Spieler war, auf diese grandiose Gemeinschaftsleistung, auf den ganzen Verein. Aber der junge Trainer des FC Schalke 04 kam nach diesem irren 4:4 bei Borussia Dortmund gar nicht erst dazu, seine Siegesrede zu halten. Die Spieler unterbrachen ihn jäh. „Derbysieger! Derbysieger!“, brüllten sie immer wieder. Nach einem Spiel, in dem zwei Mannschaften je vier Tore geschossen hatten. Und trotzdem hatte eine verloren und die andere gewonnen.
Wenn du in der Pause die Verzweiflung in den Gesichtern der Spieler entdeckst, ihre Niedergeschlagenheit, ihre Ratlosigkeit – was machst du dann als Trainer? „Draufzuhauen wäre falsch gewesen“, erklärte Domenico Tedesco. Auch eine Aufholjagd auszurufen erschien so erfolgversprechend wie der Versuch, ein Ei auf eine Bleistiftspitze zu stellen. „An ein Wunder habe ich ja selbst nicht mehr geglaubt“, gab Tedesco zu. „Die Dortmunder haben uns doch am Anfang überrollt. Jeder Schuss ein Treffer. Die Hölle.“
Neue Ziele in der Halbzeit
Tedesco, erst 32 Jahre jung und erst seit Sommer Bundesliga-Trainer, wusste aber schon in diesen Momenten der scheinbaren Aussichtslosigkeit, „dass uns so eine Geschichte charakterlich und mental nach vorne bringen kann“. Also gab er ein neues Ziel aus, ein erreichbares, ein realistisches. Er sagte zu den Betrübten: „Lasst uns die zweite Halbzeit gewinnen.“
Ralf Fährmann, der Kapitän und Torwart, verriet im ZDF-Sportstudio, auf welch imposante Art Tedesco zum Team gesprochen hatte: „Er hat uns enger zusammengerufen. Dann ist er auf die Knie vor uns gegangen und hat gesagt, dass wir aus dem Spiel jetzt schon lernen müssen. Und die zweite Halbzeit als neues Spiel sehen sollen.“
Vermutlich wäre dieser coole Kerl auch in der Lage, die Tuareg in der Sahara von den Vorteilen einer Heizdecke zu überzeugen. Als die Schalker die Kabine verließen, glaubten sie wieder an sich.
Guido Burgstallers 1:4 war noch Ergebniskosmetik. Bei Amine Harits 2:4 kam der Gedanke auf, dass doch noch Unmögliches möglich gemacht werden könnte. Dann traf Daniel Caligiuri – die Initialzündung für die Schlussoffensive. Naldos Kopfballtor in der Nachspielzeit: Bestätigung und Belohnung.
„So ein Spiel, das 4:4 endet, bringt uns weiter als ein 1:0“, meinte Sportvorstand Christian Heidel. Domenico Tedesco erinnerte selbst im Triumph daran, dass auch Begünstigung im Spiel war. Ja, Schiedsrichter Deniz Aytekin hätte Dortmunds 1:0-Führung wegen Handspiels von Pierre-Emerick Aubameyang auch annullieren können, aber Voraussetzung für Schalkes Comeback war eine andere Fehlentscheidung: Der junge Thilo Kehrer, diesmal übermotiviert, kam mit einer Gelben Karte davon, hätte aber vom Platz gestellt werden müssen. „Wenn er Rot kriegt, dürfen wir uns nicht beschweren, und dann ist es vorbei“, erklärte Tedesco aufrichtig.
Die Besten: Harit und Goretzka
So aber konnte er Kehrer zur Pause durch den ruhigeren Matija Nastasic ersetzen. Bereits nach einer halben Stunde hatte Tedesco zwei andere erfolggekrönte Korrekturen vorgenommen: Er hatte die nicht hundertprozentig fitten Leon Goretzka und Amine Harit mit Verspätung aufs Feld geschickt – der eine gab dem Schalker Spiel auf Anhieb Struktur, der andere bereicherte es mit Tempo und Mut.
Zwei Schalker Derby-Helden. „Es war ein Traum, das erlebt zu haben“, sagte Harit, nachdem die Wende tatsächlich geschafft war, und Goretzka war sich sicher: „Das ist ein Tag, den man in seinem Leben nicht vergessen wird.“
Der Initiator des Wunderwerks gab seinen Jungs für Sonntag trainingsfrei. Er selbst hielt es für nötig, weiterzuarbeiten. Er traf sich mit seinem Assistenten Peter Perchtold zur Analyse auf dem Trainingsgelände. Mehr muss man über Domenico Tedesco nicht wissen.