„Vermeintlich“ habe er soeben das letzte Flutlichtspiel im Georg-Melches-Stadion bestritten, dem altehrwürdigen. So darf sich heute fast jede Sportstätte nennen lassen, die ein paar Mal genullt hat. Selten aber hat ein Stadion derartig plausibles Anrecht auf den Kult-Stempel wie das Georg-Melches-Stadion. Hafenstraße 97 a, das war und ist mehr als nur ein Stadion. Wo sich im Milieu der nordstädtischen Essener Industriebrache ringsherum halbseidene Auto-Importeure angesiedelt haben, beherbergte das Georg-Melches-Stadion knapp 50 Jahre lang nicht nur einen sehr besonderen Verein.
Das Stadion war in rauem Umfeld eine Enklave einer Fußballkultur, die in den meisten Teilen der Republik längst ausgestorben ist. Das Stadion und sein Umfeld waren dabei stets nicht nur Statisten der großen und kleinen Dramen und Komödien, die sich auf dem Rasen und hinter den Kulissen des „GMS“ abspielten. Vielmehr prägte gerade dieses besondere Flair ein ganz neues Gefühl. Drei Worte reichen dem hafenstraßeerfahrenen Essener, um es zu beschreiben: Freitagabend, Flutlicht, Hafenstraße. Wer sich an der letzten Tankstelle vor dem großen Gefecht eine Pulle geköpft, sich gegenüber eine schmierige Mantaplatte eingefahren und sich dem rot-weissen Strom, der wie ferngesteuert seinen Stammplatz auf einem der standhaft dem Zerfall oder Abriss trotzenden Ränge zufloss, hingegeben hat, der weiß, was das bedeutet.
Es sind mehr als nur Gemäuer, von denen sich die Rot-Weiss-Fans dieser Tage verabschieden. Es sind Gerüche, Geschmäcker, Witze, Tränen und Erinnerungen. Hier gab es Lebensgefühl in Dosen. Verabreicht zweimal im Monat. Ganz zu schweigen von den Schoten und Anekdoten der Großen, die noch von der legendären Westkurve fabulieren. Das sind tatsächlich Geschichten aus einer anderen Zeit, deren Akteure irgendwie ausgestorben scheinen. Wahrscheinlich hat sie die Zeit einfach nur verändert.
So wie es mit allen und allem irgendwann geschieht. Auch das Georg-Melches-Stadion muss nun weichen und Platz machen. Obwohl in Sichtweite schon der Richtkranz am neuen Stadion baumelt, ist die Vorstellung, sich von dieser Heimat zu verabschieden, noch immer unwirklich. Von diesem Platz, der so viel zum Selbstverständnis Rot-Weiss Essens beigetragen hat und RWE so schrullig, einzigartig und nicht zuletzt auch erst liebenswert machte. Inmitten eines Umfelds funktionalistischer Fußball-Einheitsbauten. Das wird nun selbst denen bewusst, die die größten Tage dieses Vereins nicht mehr selbst miterlebt haben. Auch wenn die Ultra-Kultur ein diffuses Bild von sich gibt, so ist sie doch unstrittig von der Jugend-Kultur geprägt. Gerade diese Seele einer neuen Fankultur hat dieses Stadion natürlich auch zu ihrem gemacht und ihm beim vermeintlich letzten Flutlichtspiel an der Hafenstraße dem GMS ein ehrenhaftes Andenken erwiesen.
Da die freudlose 0:4-Niederlage gegen Eintracht Trier naturgemäß wenig Emotionen weckte, entwickelte sich im Laufe der zweiten Halbzeit der Partie gerade auf den Rängen Bemerkenswertes. Immer mehr rückte das Interesse von der Partie ab, rückten die Ränge in den Fokus. „Geeeorg-Melches-Stadiooon“ – ein Fangesang für eine Spielstätte. Wann hat es das irgendwo gegeben? Wann wird es das wieder geben? Nicht nur, weil sich bis zum Erbrechen durchkommerzialisierte Sprachverbrechen wie Wirsol Rhein-Neckar-Arena oder Sparda-Bank-Hessen-Stadion der Fanseele versperren. Gleichsam ist diese besondere Verehrung Zeugnis davon, dass diese einstmals als Prunkstätte eingeweihte Arena eines der wenigen Vereins-Devotionalien war, das Selbstverständnis und Selbstbewusstsein des RWE und seiner Fans prägte, wie es andernorts nurmehr schwer vorstellbar ist.
Während andere Verein Erfolge oder Titel vor sich hertragen können, tragen die Männer, die mit RWE-Embleben auf der Brust Pokale in die Luft recken, Pomade im Haar und sind schwarz-weiß. Hafenstraße, das war nie die große, weite Welt und mitnichten der große Fußball. Gleichwohl und gerade deshalb aber eines der Herzstücke dessen, was nur allzu häufig bemüht und überstrapaziert wird: dem Fußball im Revier – ja, am Ende sogar dem Ruhrgebiet selbst.
Dann, spätestens, als Schiedsrichter Lasse Koslowski aus Berlin die Begegnung gegen 21.45 Uhr pünktlich abpfiff, spürten auch die Spieler, dass sie während der von vornherein praktisch bedeutungslosen Partie von Akteuren zu Komparsen geworden waren. Niemand sank nach diesem nun deprimierenden Spiel zu Boden oder trottete gesenkten Hauptes in die Kabine. Vielmehr wirkten die Essener Spieler und gleichsam auch die des Gegners gebannt von der Pyroshow.
„Chapeau! Wir sagen es ja immer wieder, aber diese Fans sind einfach einmalig. Darauf lässt sich aufbauen.“ Denn vor allem zeigten die RWE-Anhänger, dass nur sie aus diesem Betonklotz einen Fußballtempel gemacht haben. Dies auch in der neuen Arena zu bewerkstelligen ist schwer, aber nicht unmöglich. Einen hat RWE aber ja möglicherweise noch in petto: „Vermeintlich war es das letzte Spiel“, betonte Brauer. „Wir wollen noch ins Niederrhein-Pokalfinale kommen.“ Spätestens dann wird dieses Licht für immer gelöscht...