Das Ruhrgebiet – das ist Maloche, Currywurst und wenig Platz. Fünf Millionen Menschen leben hier auf nur 4500 Quadratkilometern, in Städten, die zu einer einzigen Riesenstadt zusammengewachsen scheinen. Doch innerhalb seiner Grenzen gibt es etliche Demarkationslinien: Hinterm Gartenzaun ist Feindesland. Fußball ist Religion im Pott, und Religion führt zu Konflikten.
Die Rivalität zwischen Schalkern und Dortmundern gehört längst zur Bundesligafolklore. In Gelsenkirchen verscheucht man gern mal eine Biene vom Butterkuchen, weil sie ja schwarz-gelb ist. Aber zwischen diesen Städten liegen immerhin 40 Kilometer, genug Raum, um sich aus dem Wege zu gehen. Gelsenkirchen und Essen jedoch gehen direkt ineinander über – da kann man froh sein, wenn einen überhaupt noch ein Zaun vom verhassten Nachbarn trennt.
Die Stimmung an der A40 war nicht immer feindselig. Im Gegenteil. Früher ging man samstags in die Schalker Glückauf-Kampfbahn und am Sonntag an die Hafenstraße zu Rot-Weiss, schiedlich-friedlich. Sogar eine Ikone teilte man sich: Der inzwischen wegen seiner nationalsozialistisch belasteten Vita in Misskredit geratene Fritz Szepan gründete in den dreißiger Jahren den Schalker Kreisel, 1955 führte er RWE als Trainer zur Deutschen Meisterschaft.
Doch 1971 zerriss das Band der Freundschaft, es war das Jahr des Bundesligaskandals. Spiele waren verschoben worden, auch Profis des FC Schalke gehörten zu den Tätern. Während ihr Verein aber im Oberhaus blieb, stiegen die unschuldigen Essener ab. Noch 40 Jahre danach halten sie die Tatsache, dass sie vier Ligen unter dem Erzrivalen spielen müssen, für eine historische Ungerechtigkeit.
Der Schalker Klaus Fichtel wurde damals wegen Manipulation verurteilt. In den letzten Jahren arbeitete er als Scout für seinen alten Klub, auch auf den Tribünen an der Hafenstraße. Im Feindesland. »Das war für mich nie angenehm«, sagt er.
»Als ich einmal das Stadion mit meinem Auto verließ, kamen RWE-Fans vorbei und zogen einen Schlüssel an der Wagentür entlang.« Essen gegen Schalke – für Liebhaber von Krawall und Remmidemmi das einzig wahre Revierderby. Die Sicherheitsexperten des DFB verfolgen jede Pokalauslosung mit Angstschweiß auf der Stirn – im Falle eines Aufeinandertreffens dürfte mehr zu Schaden kommen als nur Fichtels Lack.
Tatsächlich hat es ein offizielles Spiel seit der zweiten DFB-Pokalrunde 1992 (2:0 für Essen) nicht mehr gegeben. Der Hass schwelte, verwandelte sich und wurde in der Essener Viertliga-Tristesse zur Missgunst und in den Schalker VIP-Lounges zur Hybris. »Du hast dich verändert«, würden die Klubs wohl sagen, wenn sie ein im Schlechten getrenntes Liebespaar wären, das sich nach einer Ewigkeit wieder sieht.
Im Grunde sind sie das ja auch. Und wie immer in solchen Beziehungsdramen ist da etwas, das beide noch immer verbindet: In all den Jahren der Trennung haben Essener und Schalker in ihren Hymnen den gleichen alten Mann besungen. Der Greis ist eine Symbolfigur für rückhaltlose Fußballbegeisterung: Mit weißem Rauschebart und Prinz-Heinrich-Mütze sitzt er der Legende nach bei Wind und Wetter am Spielfeldrand und läutet die Zechenglocke, wenn sein Verein ein Tor schießt. Gütig lächelt er durch die Jahrzehnte seinen Enkeln zu. Er ist ihr Opa – oder um in der Sprache des Ruhrgebiets zu bleiben: »Dat is unsa Oppa!«
In Essen heißt er Oppa Luscheskowski. Er kennt RWE seit 1907, dem Gründungsjahr, so heißt es in der Fanhymne, und ist der erste staatlich beurkundete Allesfahrer der Geschichte. Seine Frau treibt er zur Weißglut, weil selbst die goldene Hochzeit und ein Urlaub in den Bergen ihn nicht davon abhalten, zu Spielen von RWE auszubüchsen. Selbst dem Herrgott ruft er nach übereinstimmenden Berichten noch entgegen: »Wir werden Essen nie vergessen, wir sind die Fans von Rot-Weiss Essen!«
Im nahen Gelsenkirchen verhält sich die Sache verblüffend ähnlich. Auch in der Arena huldigt man dem Oppa, der hier Pritschikowski heißt und nicht einfach nur die Omma quält, sondern »quälen tut«. Natürlich hat er kein Spiel seit der Vereinsgründung 1904 verpasst, und stets skandiert er seinen Schlachtruf: »Ob ich verroste und verkalke, ich gehe immer noch auf Schalke!«
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